Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich kandidiere auf eigene Initiative für den ver.di-Bundesvorstand. Das hat in unserer Organisation manche Wellen geschlagen und zu einigen auch unschönen Auseinandersetzungen geführt. Ich werde häufig gefragt, warum ich mich trotzdem dazu entschlossen habe, diese Auseinandersetzung zu führen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir neue Impulse brauchen, um unsere Gewerkschaft wieder nach vorne zu bringen. Deshalb habe ich nachstehend versucht, einige meiner Ideen in knappen Stichworten vorzustellen.
- Für eine schlagkräftigere ver.di: Etwa eine Million Mitglieder haben unsere Gewerkschaft seit ihrer Gründung im Jahr 2001 verlassen. Wir müssen uns eingestehen, dass sich ver.di in einer Krise befindet, wir müssen sie benennen und analysieren, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Zahlreiche, häufig extern aufgesetzte Kampagnen und Organisationsprozesse (»Chance 2011«, »Perspektive 2015«, »ver.di wächst«, »Zukunft der Mitgliederentwicklung«) haben uns nicht aus der Krise geholfen, denn strukturelle, organisatorische und politische Ansätze haben bei diesen Versuchen kaum eine Rolle gespielt.Für eine Neuausrichtung unserer Gewerkschaft, die nah an den Mitgliedern und nah an Betrieb und Dienststelle sein muss, müssen wir die Finanzströme und die gesamte politische Kraft unserer Gewerkschaft in die Arbeit vor Ort und in die Betriebe/Dienststellen lenken. Unsere Mitglieder müssen in allen Bereichen in das Zentrum der Entscheidungen und der gewerkschaftlichen Aktivitäten rücken. Die Gewerkschaft als Organisation darf nicht als Selbstzweck gesehen und gelebt werden.
- Gewerkschaft aus Sicht der Mitglieder und des Betriebes denken und aufbauen: Unsere Gewerkschaft steht auf dem Kopf, wir müssen sie wieder auf die Füße stellen. Wir müssen ver.di aus der Sicht der Mitglieder und aus dem Blickwinkel des Betriebes zu denken und aufbauen. Dazu müssen Personal, Budget, Ressourcen und Kapazitäten dort zum Einsatz kommen, wo Menschen arbeiten und wo wir Mitglieder gewinnen. Nur dadurch können wir den Bedürfnissen der Mitglieder, aber auch der lohnabhängig Beschäftigten insgesamt Geltung verleihen.
- Matrix auflösen – Vorrang für die ehrenamtliche Arbeit: Als Folge der Verschmelzung von fünf Quellgewerkschaften verfügt ver.di über eine sehr komplexe Organisationsstruktur. Diese Strukturen beanspruchen (zu) viel Zeit und Energie für interne Abstimmungsprozesse. Die sog. Matrix, die ver.di in Organisationseinheiten wie Bezirk, Landesbezirk und Bundesebene sowie nochmal Fachbereiche, Fachgruppen und dazu noch in Personengruppen wie Frauen, Migrant*innen, Erwerbslose, Soloselbstständige, Jugend etc. aufteilt, hat uns nicht nach vorne gebracht und ist überholt. Wir dürfen nicht länger an Fehlkonstruktionen festhalten, nur weil sich manche in ihr bequem eingerichtet haben. Wir brauchen dringend eine Organisationsstruktur mit weniger interner Bürokratie und stattdessen größtmöglicher Nähe zu den Betrieben und Dienststellen, nahe bei den Mitgliedern. Daher müssen wir die Ressourcen von ver.di auf der Bundesebene auf das Notwendige einschränken. Die Landesebene als eigenständige Einheit sollten wir zumindest für den privaten Dienstleistungssektor abbauen. In einer offenen und ehrlichen Debatte müssen wir klären, wieviel finanzielle und personelle Ausstattung die Landesbezirke und die Bundesverwaltung wirklich benötigen und wo Mittel zugunsten der Arbeit an der Basis freigemacht und gesteuert werden können. Dazu gehört auch, Ebenen und Zuständigkeiten von Fachbereichen zu Kompetenz- und Aufgabenbereichen zusammenzulegen.In weiten Teilen ist ver.di eine »Betriebsrätegewerkschaft«. Das aber schließt oft Mitglieder aus, die keine betrieblichen Funktionen ausüben. Wer sich dieser Realität stellt, darf nicht nur von der Erschließung von Betrieben und der aktiven Einbeziehung der Mitglieder reden, sondern muss Mitgliedergewinnung und Personalentwicklung verstärken. Sie sind Voraussetzungen, um Gestaltungsmacht und Handlungsfähigkeit in den Betrieben zu zurückzugewinnen. Dabei kommt es stark auf die vertrauens- und verständnisvolle Zusammenarbeit zwischen haupt- und ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen an. Mitgliederbeteiligung und demokratische Strukturen dürfen nicht nur in der Satzung oder Statuten stehen, sondern müssen immer und überall gelebt werden.
- Keine halben Sachen mehr – Zusammenführen, was zusammengehört: Bei der jüngst erfolgten Zusammenlegung der meisten Fachbereiche ist es nicht vordergründig um branchen- und tarifpolitischen Erwägungen oder Synergieeffekte gegangen. Wir sollten die Ergebnisse der bisherigen Fusionen dringend analysieren und Schlussfolgerungen ziehen, was sie für branchenpolitische, tarifliche und unternehmenspolitische Folgen hatten und wie sie im Nachhinein hinsichtlich ihrer inhaltlichen Logik und ihrer Potentiale zur organisationspolitischen Stärkung zu bewerten sind. Die ver.di-Fachbereiche müssen dort zusammenrücken, wo es inhaltlich Sinn ergibt und die Gewerkschaft insgesamt stärkt. Das wird am Beispiel der Logistik deutlich. Es bestehen enge Verbindungen zwischen der Handels-, der Speditions-, Post- sowie der Hafen- und Luftfahrtlogistik; die gewerkschaftliche Durchsetzungskraft könnte durch ein gemeinsames Vorgehen gestärkt werden. Und wir sollten darüber nachdenken, unsere Strukturen nach Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst (inklusive Tochter- und Einzelunternehmen) aufzuteilen.
- Auf unseren Markenkern konzentrieren: Tarifverträge und Tarifpolitik sind unser Kerngeschäft. Doch gerade in diesem Bereich verlieren wir zusehends an Boden, davon dürfen auch kurzfristige Erfolge nicht ablenken. Bei Zukunftsthemen der Beschäftigten wie Digitalisierung und Automatisierung steckt unsere Gewerkschaft inhaltlich oft noch in den Kinderschuhen. Vor allem seit dem von den verschiedenen Bundesregierungen politisch gewollten weitgehenden Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit von Flächen- und Branchentarifverträgen ist ein anderer Ansatz in der gewerkschaftlichen Tarifpolitik notwendig. Solange unsere politische und organisatorische Kraft für eine Rückkehr zu landesweit (und international) geltenden Arbeitsbedingungen nicht ausreicht, sollten wir den Abschluss von Haus-, Sparten- und Anerkennungstarifverträgen forcieren. Alle Ansätze, die geeignet sind, die fortschreitende Tarifflucht (dazu gehören auch Mitgliedschaften »ohne Tarifbindung« in den Arbeitgeberverbänden) zu bekämpfen und den Tarifvorbehalt (§77 Absatz 3 Betriebsverfassungsgesetz), der durch betriebliche Regelungen unterlaufen wird, zu verteidigen, sollten von uns unterstützt werden. Der Tarifvertrag ist der Markenkern einer Gewerkschaft. Der Verzicht darauf kommt einer »politischen Insolvenz« gleich. Als Tarifgewerkschaft sollten wir den Blick auf die Wertschöpfungs- und Lieferketten richten und (grenzüberschreitende) Tarifverträge entlang dieser Ketten anstreben. Hierfür ist im ersten Schritt eine Vereinheitlichung von regionalen Flächentarifverträgen durch bundesweite oder zumindest Rahmentarifverträge mit Mindeststandards notwendig. Dazu müssen wir als ver.di auch in den internationalen Gewerkschaftsdachverbänden wie UNI Global Union, ITF, PSI usw. eine viel aktivere Rolle einnehmen.
- Zukunft der Arbeit und Plattform-Ökonomie: Von den Digitalisierungs- und Automatisierungsprozessen sind alle Bereiche des tertiären Sektors (Dienstleistungen) betroffen. Doch insbesondere bei der Plattform-Ökonomie sind wir als ver.di oft noch eher außenstehende Beobachter*innen als tarifpolitische Gestaltungskraft. Neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen brauchen wir gute und verlässliche Regelungen zu den zentralen Zukunftsfragen, die die Beschäftigten in den Fokus rücken und die Transformationsprozesse durch qualitative Tarifpolitik begleiten. Gesetzliche Rahmenbedingungen für die Fortentwicklung der Plattform-Ökonomie dürfen nicht dem Zufall überlassen werden. Wir müssen uns aktiv in die Gesetzgebungsprozesse einbringen und im Sinne unserer Mitglieder mitgestalten. Dabei muss es um Fragen der Marktregulierungen, die Steuerpolitik und die Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Plattform-Ökonomie gehen. ver.di muss als die Gewerkschaft für die Plattform-Ökonomie sichtbar werden, die Gewinnung von Tech-Arbeiter*innen muss stärker ins Zentrum unserer Arbeit rücken.
- Gewerkschaftliche Bildungsarbeit: Lernen um zu handeln und handeln um zu lernen: Wenn wir nicht wissen, wo wir hin wollen, wie wir uns die Zukunft vorstellen, können wir auch heute keinen klaren Kurs steuern und keine überzeugenden Antworten auf gesellschaftspolitische Probleme und Herausforderungen geben. Wir brauchen in und für unsere Organisation nicht nur Fachleute, die in ihren jeweiligen Bereichen fachlich und juristisch fit sind. Wir brauchen Kolleginnen und Kollegen, die bewusst als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter für unsere gemeinsamen Ziele arbeiten. Dafür ist unsere gewerkschaftliche Bildungsarbeit entscheidend. Es muss Schluss sein mit der immer weiteren Einschränkung der Angebote, wir müssen unsere gewerkschaftliche Bildungsarbeit und unsere gewerkschaftlichen Bildungsstätten ausbauen und stärken.
- Die Arbeit der Personengruppen stärken: In Sonntagsreden heben wir gerne die Bedeutung unserer gewerkschaftlichen Arbeit für und mit Frauen, Migrant*‘innen, Jugendlichen, Erwerbslosen, Soloselbstständigen, Rentner*innen usw. hervor. Tatsächlich jedoch fällt diese Arbeit viel zu oft aus Zeitmangel hinten runter. Wenn wir unsere Jugendarbeit in den Bezirken und Fachbereichen stärken wollen, dürfen nicht weiterhin bloß Bruchteile wie 0,1- oder 0,2-Stellenanteile für die gesamte Jugendarbeit eines Bezirkes oder Fachbereiches zu Verfügung stehen. Notwendig sind ganze Stellen für die Jugendarbeit und je nach Bereich auch ein spürbarer Ausbau der Kompetenzen für andere Personengruppen mit ihren spezifischen Anliegen und Problemen.Ohne Migrantinnen und Migranten wären ganze Unternehmen und zum Teil ganze Branchen kaum funktionsfähig. In den Dienstleistungsbranchen sind sie sehr präsent und in der Regel sehr offen dafür, in die Gewerkschaften einzutreten und sich auch aktiv zu beteiligen. In einigen Branchen wären unsere Streiks und Aktionen ohne Migrantinnen und Migranten kaum noch vorstellbar. Als Gewerkschaft sind wir gut beraten, in die Arbeit für die Gewinnung neuer ver.di-Mitglieder aus diesem Kolleginnen- und Kollegenkreis zu investieren. Dazu müssen die Migrationsausschüsse in den Bezirken mit mehr Finanzen und – auch hauptamtlichen – Ressourcen ausgestattet werden. ver.di ist mit mehr als einer Million Gewerkschafterinnen eine der größten Frauenorganisationen in Deutschland. Danach muss auch die Frauenarbeit in unserer Gewerkschaft ausgerichtet werden. Sie ist keine Spezialaufgabe des Bereichs FuG, um die sich die anderen Strukturen nicht kümmern müssen, sondern ständige Aufgabe unserer gesamten Organisation! Und auch die Arbeit mit unseren Erwerbslosen und Rentner*innen verdient mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung unserer Organisation. Wer aus dem aktiven Arbeitsleben ausgeschieden oder herausgedrängt worden ist, sich aber bewusst entscheidet, Mitglied der Gewerkschaft und in ihr aktiv zu bleiben, verdient Respekt und Unterstützung!
- Solo-Selbstständige vereinen: In Deutschland arbeiten laut Angaben des Bundesarbeitsministeriums rund 2,23 Millionen Menschen als Soloselbstständige. Unsere Netzwerke und Beratungsangebote in ver.di müssen für diese Beschäftigungsgruppe weiter ausgebaut und die Ausgestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen in ihrem Interesse vorangetrieben werden. Das Projekt »Haus der Selbstständigen« in Leipzig, das die Interessen von Solo-Selbstständigen bündeln soll, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
- Gewerkschaften gegen den Krieg: Als Gewerkschaften sind wir dem Frieden verpflichtet, denn ohne Frieden kann es keine Gewerkschaften geben. Wir dürfen uns deshalb von einer konsequenten Friedenspolitik nicht abbringen lassen, auch nicht zu Gunsten des politischen Mainstreams oder der Politik bestimmter Parteien. Daher lehne ich den eingebrachten Leitantrag (Antrag E 096) mit dem Titel „Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“ ab. Setzen wir uns kompromisslos gegen Kriege, Aufrüstung und Militarisierung ein, für den Frieden weltweit!
Daran könnt ihr mich messen, dafür stehe ich
Wer mehr zu meinen Standpunkten, meiner Analyse sowie meinen Vorschlägen für Wege aus der Krise unserer Gewerkschaft erfahren möchte, ist gerne auf meine Homepage eingeladen: www.orhan-akman.de
Siehe auch:
Orhan Akman
Kandidat für ver.di-Bundesvorstand
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