13. Juli 2024

Eine Niederlage ist eine Niederlage!

Ein Kommentar zum Tarifabschluss im Hamburger Einzelhandel

Als „Durchbruch“ feierte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di den Tarifabschluss im Hamburger Einzelhandel vom 8. Mai 2024. „Die Einigung in Hamburg ist ein großartiger Erfolg“, ließ ver.di verkünden. (vgl. www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++1127a884-0d83-11ef-ba16-23b4c5b3c295)

Auch der Unternehmensverband HDE spricht von einem Durchbruch und lässt wissen: „Der Tarifabschluss liegt deutlich unterhalb der ursprünglichen Forderungen von ver.di“ (https://einzelhandel.de/presse/aktuellemeldungen/14505-durchbruch-nach-mehr-als-zwoelf-monaten-verhandlung-tarifabschluss-im-einzelhandel-in-hamburg)

Kann man diesen Tarifabschluss aus gewerkschaftlicher Sicht feiern oder nur schönreden?

Das sind die Fakten zum Tarifergebnis:

  • Nach fünf Null-Monaten werden rückwirkend zum 1. Oktober 2023 die Löhne um 5,3 Prozent erhöht (Der Tarifvertrag für den Hamburger Einzelhandel lief zum Ende April 2023 aus, daher die fünf Null-Monate).
  • zum 1. Mai 2024 werden die Löhne um weitere 4,7 Prozent angehoben.
  • Ab 1. Mai 2025 bekommen die Beschäftigten weitere 40 Euro (Festgeldbetrag) plus 1,8 Prozent.
  • „Die Auszubildendenvergütungen werden überproportional erhöht“, wurde mitgeteilt, ohne konkrete Summen zu erwähnen
  • Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt 36 Monate (erstmals eine so lange Laufzeit im Einzelhandel seit der ver.di-Gründung!)
  • Zusätzlich zahlen die Unternehmen eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 1.000 Euro zum 1. Juni 2024 (Teilzeitbeschäftigte anteilig).
  • Ab 1. Januar 2025 erhalten Beschäftigte 120 Euro tarifliche Altersvorsorge jährlich mehr (Anmerkung: Es gibt einen gesonderten Tarifvertrag zur Altersvorsorge im Einzelhandel, der nicht gekündigt und auch nicht Gegenstand der Tarifverhandlungen war)

So wie in den meisten Tarifgebieten machte ver.di in Hamburg Anfang 2023 mit diesen Forderungen den Tarifauftakt im Einzelhandel:

„ver.di fordert in der Tarifrunde 2023 im Hamburger Einzelhandel:

  • Erhöhung der Löhne und Gehälter um 2,50 Euro pro Stunde.
  • Ein rentenfestes Mindestentgelt von 13,50 Euro pro Stunde.
  • Erhöhung der Ausbildungsvergütungen um 250 Euro pro Monat.
  • Die Laufzeit des Tarifvertrages soll 12 Monate betragen.
  • Darüber hinaus fordert die Gewerkschaft die gemeinsame Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge.“

(vgl. ver.di ruft die Beschäftigten im Einzelhandel zu einem ersten Warnstreik auf | Landesbezirk Hamburg (verdi.de)

Der Tarifvertrag für den Hamburger Einzelhandel lief zum Ende April 2023 aus. Es galt also, die Löhne ab dem 1. Mai 2023 zu verhandeln und zu regeln. ver.di hofft nun, dass dieser Abschluss auch in den anderen Tarifbezirken „nachgezeichnet“ wird, obwohl sie zugleich der angeblichen Regionalität der Tarifverhandlungen einen hohen Wert beimisst. Dabei ist eine Regionalität der Tarifverträge im Handel heutzutage weder nachvollziehbar noch begründbar. (vgl. meinen Beitrag dazu unter www.orhan-akman.de/2023/01/skizzierung-einer-neuausrichtung-der-tarifpolitik-im-handel-eine-branche-mit-einheitlichen-bundesweiten-tarifvertraegen/ )

Keine der Forderungen durchgesetzt

Zwischen einer Tarifforderung und einem Abschluss gibt es in der Regel ein Delta bzw. eine Lücke. Das ist nichts Unübliches, wenn man dies begründen und erklären kann. Bei diesem Tarifabschluss ist das Delta so groß, dass man es den Beschäftigten nicht ehrlich erklären könnte.

Der Faktencheck zeigt: Der Hamburger Tarifabschluss ist weit entfernt von den Forderungen von ver.di. Die tabellenwirksame Erhöhung der Löhne zum 1. Oktober 2023 ist keineswegs ein Erfolg. Der Einzelhandelsverband HDE hatte den Unternehmen bereits im Herbst empfohlen, die Löhne „freiwillig“ um 5,3 Prozent zu erhöhen. Damit hat der HDE Fakten geschaffen. Neben den fünf Nullmonaten wurde damit auch prozentual ein Reallohnverlust zementiert.

Daher muss meines Erachtens erklärt werden, warum dieses Ergebnis plötzlich gut sein soll, obwohl zuvor genau das Gegenteil gesagt wurde. Silke Zimmer, die auf dem Bundeskongress in den ver.di-Bundesvorstand für den Fachbereich Handel gewählt wurde, äußerte sich seinerzeit völlig anders und sagte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Das, was jetzt freiwillig gezahlt wird, bedeutet einen weiteren Reallohnverlust für die Beschäftigten. Es sind 92 Cent, die eine Verkäuferin mehr bekommt“.

Der Tarifabschluss in Hamburg schreibt für das erste Tarifjahr mit der Erhöhung um 5,3 Prozent genau diese 92 Cent fest!

Tatsächlich teilte das Statistische Bundesamt im Januar 2024 mit: „Die Verbraucherpreise in Deutschland haben sich im Jahresdurchschnitt 2023 um 5,9 % gegenüber 2022 erhöht (…) Im Jahresdurchschnitt 2023 verteuerten sich Nahrungsmittel besonders stark um 12,4 %.“ (vgl. www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/01/PD24_020_611.html#:~:text=WIESBADEN%20–%20Die%20Verbraucherpreise%20in%20Deutschland,%2B6%2C9%20%25%20gelegen )

Auch die nun tarifierte 4,7 Prozent-Erhöhung zum 1. Mai 2024 steht schon seit längerem fest. Auch hier hatte der HDE den Unternehmen empfohlen, die Löhne in diesem Tarifjahr um 4,7 Prozent zu erhöhen. Mit 5,3 Prozent in 2023 und 4,7 Prozent in 2024 hat der HDE ver.di die insgesamt 10 Prozent Erhöhung aufgezwungen, die bereits im Sommer 2023 als mögliches Verhandlungsergebnis auf dem Tisch lag.

Auch die Forderung nach der gemeinsamen Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit (AVE) der Tarifverträge konnte ver.di nicht durchsetzen. Nicht einmal eine Absichtserklärung oder Verhandlungsverpflichtung zur AVE konnte ver.di erreichen. Angesichts der dramatischen Erosion der Tarifbindung, im Handel, die unsere Gewerkschaft immer mehr schwächt, wäre eine Vereinbarung zur AVE von zentraler Bedeutung.

36 anstatt 12 Monate Laufzeit

Erstmals seit Beginn der Tarifrunden im Handel in den 2000er Jahren ist es der Kapitalseite gelungen, ver.di Handel zu einem Tarifabschluss von weit über 24 Monaten zu zwingen. Obwohl ver.di in ihrer Forderung eine Laufzeit von 12 Monaten gefordert hatte, musste die Gewerkschaft durch den Hamburger Tarifabschluss erstmals eine Laufzeit von drei Jahren „schlucken“. Dabei ist die Erhöhung für das dritte Tarifjahr im Abschluss mit 40 Euro Festgeldbetrag plus 1,8 Prozent mehr als dürftig.

Im vergangenen Jahr hatten die regionalen Unternehmensverbände ver.di immer wieder eine Laufzeit von 24 Monaten (bei einem besseren Tarifangebot!) vorgelegt, was die Gewerkschaft ablehnte!

Geringer IAP-Betrag

Die vereinbarte Inflationsausgleichsprämie (IAP) fällt mit 1.000 Euro auch sehr gering aus. Der Gesetzgeber hatte den Unternehmen die Möglichkeit eingeräumt, bis 3.000 Euro abgaben- und steuerfrei mit den Gewerkschaften zu vereinbaren. Insoweit wäre sicherlich ein höherer IAP-Betrag notwendig, aber auch finanziell für die meisten Unternehmen möglich gewesen. Warum ver.di die 1.000 Euro IAP für die Teilzeitbeschäftigten nur anteilig vereinbart hat, ist unverständlich und auf jeden Fall falsch. Denn 70 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten in Teilzeit und bekommen daher nur einen Bruchteil von den 1.000 Euro, obwohl die Teuerung der Lebenshaltungskosten die Teilzeitbeschäftigten gleichermaßen trifft wie die Vollzeitbeschäftigten.

Drei zu Null für den HDE!

In der Summe hat sich der Handelsverband Deutschland (HDE) drei zu null gegen ver.di durchgesetzt. Für die Tarifjahre 2023 und 2024 hat der HDE durch angekündigte und vollzogene freiwillige Erhöhungen bereits Fakten geschaffen, an denen ver.di nicht vorbeikam. Dabei konnte ver.di nicht einmal die Zahl hinter dem Komma zu Gunsten der Beschäftigten verbessern! Mit 5 Nullmonaten sowie einer Erhöhung von 5,3 Prozent und ohne eine IAP hat der HDE dieses Tarifjahr 2023 voll für sich verbuchen können. Die Beschäftigten mussten 2023 massive Reallohnverluste durch den Tarifabschluss hinnehmen. Dabei wäre die IAP und mindestens ein Tarifabschluss, der sich mit der Inflationsrate deckt, das Mindeste und wäre noch im Sommer 2023 möglich gewesen, denn das Angebot der regionalen Unternehmerverbände lag im August um die 10 Prozent.

Der Abschluss mit 4,7 Prozent in 2024 bleibt auch hinter den Erwartungen der Beschäftigten zurück. Dabei wäre beispielsweise ein Festgeldbetrag statt einer prozentualen Erhöhung in den unteren Gehaltsgruppen deutlich besser.

Wie ver.di ein „Tarifdiktat“ der Konzerne nun als „Tariferfolg“ feiert

Hätte ver.di strategisch und klug verhandelt, wäre der Abschluss mit 10 Prozent bereits im August 2023 möglich gewesen und das für eine Laufzeit von 24 Monaten. Das hätte zur Folge gehabt, dass die Anzahl der Nullmonate geringer ausgefallen wäre und die Beschäftigten die IAP bereits im Sommer 2023 bekommen hätten. Ein Abschluss um die „10-Prozent-Marke“ wäre auch durchaus noch im Herbst, ja sogar auch noch im Dezember 2023 für ver.di möglich gewesen. Doch das damalige Angebot wurde von ver.di als „Tarifdiktat“ deklariert. Die Arbeitgeber würden versuchen, „ein Tarifdiktat durchzudrücken“, wurde ver.di-Vorsitzender Frank Werneke von der Tagesschau zitiert. (vgl. www.tagesschau.de/wirtschaft/verdi-streiks-einzelhandel-100.html

Ähnlich äußerte sich Silke Zimmer sogar noch Anfang März 2024: „Gerade REWE ist als zweitgrößter Lebensmitteleinzelhändler stark in den regionalen Tarifkommissionen der Arbeitgeber vertreten. Aber anstatt dort ihren Einfluss zu nutzen und die Tarifverhandlungen zu einem Abschluss zu bringen, gehören sie mit zu den Konzernen, die an Stelle von Verhandlungen ein Tarifdiktat gesetzt haben. Die Beschäftigten können sich aber keine weiteren Reallohnverluste leisten“, mahnt Silke Zimmer, für den Handel zuständiges ver.di Bundesvorstandsmitglied.“ (vgl. www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++cc1e2d82-dba3-11ee-aaa7-f9a7e32cc080 )

Doch statt eines Abschlusses in 2023 zu erzielen, wie die Kolleginnen und Kollegen der ver.di-Tarifkommission aus Baden-Württemberg Ende 2023 berechtigterweise gefordert hatten, ist ver.di Handel unvorbereitet in das Jahr 2024 reingerutscht. Damit hat ver.di die öffentliche Deutungshoheit über diese Tarifrunde spätestens Anfang 2024 verloren und ließ sich vom HDE treiben. Ein Ergebnis davon ist, dass der HDE ver.di einen Abschluss von 36 Monaten aufzwingen konnte.

ver.di konnte sich nicht annähernd mit ihren Tarifforderungen durchsetzen. Die einzigen beiden Punkte, die man positiv anmerken muss, sind die jährliche Erhöhung der tariflichen Altersvorsorge ab 1. Januar 2025 um 120 Euro sowie dass es überhaupt einen Tarifabschluss gibt

Die Beschäftigten im Handel können rechnen

Bekanntlich kann man die Geschichte nicht ändern. Der Tarifabschluss ist Fakt und daran wird ver.di in den anderen Tarifgebieten kaum etwas zum Positiven ändern können. Anstatt diese tarifpolitische Niederlage schönzureden oder zu verklären, ist eine offene, kritische und ehrliche Diskussion mit der breiten Basis der Gewerkschaft, allen voran mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Streikbetrieben, notwendig. Geschieht das nicht, droht ver.di wichtige, kritische und kämpferische Kolleginnen und Kollegen sowie Streikbetriebe zu verlieren. Handelsbeschäftigte können nämlich rechnen, denn die Verkäufer*innen und Kassierer*innen schauen immer genau darauf, dass die Kasse stimmt. Und das gilt auch für das eigene Portemonnaie.

Für ver.di im Handel ist es höchste Zeit für einen Kassensturz und eine Neuausrichtig der Tarifpolitik im Handel. Ansonsten läuft ver.di akute Gefahr, als Tarifgewerkschaft ohne einen Rettungsanker in die Bedeutungslosigkeit zu versinken!

Bild

(vgl. www.reinhard-bispinck.net/grafiken/#tarifabschluss-einzelhandel-hamburg-2024 )