13. April 2024

Meine Rede auf der Bundesfachbereichskonferenz von ver.di Handel

Es gilt das gesprochene Wort!

Liebe Delegierte, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

ich freue mich, endlich wieder mit Euch zusammen zu sein. Die meisten von Euch kennen mich ja, für die anderen ein paar Worte zu mir. Ich heiße Orhan Akman, bin gebürtiger Kurde und lebe seit 1987 in Deutschland. Seit 1996 bin ich Gewerkschaftsmitglied, zunächst bei der NGG, seit Ende 2002 bei ver.di. Seit Dezember 2002 bin ich politischer Gewerkschaftssekretär in ver.di und habe seitdem immer im Fachbereich Handel gearbeitet – mit einer freiwilligen Unterbrechung, als ich die Gewerkschaftsbewegung in Lateinamerika unterstützt, Strukturen aufgebaut und die Gewerkschaftsmacht mit den Kolleg*innen ausgebaut habe.

Im Jahr 2019 bin ich zum Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel benannt worden. Und das Gericht entschied am 13.12.2022, dass ich auch bis zu einer rechtkräftigen Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigungen als Leiter der Bundesfachgruppe Einzelhandel in der Bundesverwaltung Ressort 8, Fachbereich Handel weiter zu beschäftigen bin. Dazu gleich mehr. Eine inhaltliche Kritik an meiner Arbeit als Bundesfachgruppenleiter und als Gewerkschaftssekretär gab es bisher weder von den ehrenamtlichen Mitgliedern des Fachgruppenvorstandes, noch vom ver.di-Bundesvorstand.

Seit meinem ersten Arbeitstag bei ver.di habe ich mir nichts arbeitsrechtliches oder gewerkschaftsschädigendes zu Schulden kommen lassen. Ich habe mich oder meine Verwandten und Familienangehörige nicht durch ver.di-Aufträge bereichert. Im Gegenteil: Seit meinem ersten Arbeitstag habe ich tagtäglich sehr intensiv und mit Herzblut für unsere Gewerkschaft gearbeitet.

Erst vor einigen Tagen habe ich im Beisein des Betriebsrates eine Einsicht in meine ver.di-Personalakte vorgenommen. Darin waren vor dem Zeitraum Dezember 2021 keinerlei Einträge, Rügen, Ermahnung, Abmahnungen oder Ähnliches enthalten.

Ich komme aus einer Gewerkschafter-Familie und bin selber absolut überzeugter Gewerkschafter. Aber der Werdegang der DGB-Gewerkschaften in den letzten 30 Jahren macht mir große Sorgen. Als DGB und dessen Einzelgewerkschaften, zu denen auch ver.di zählt, gelingt es uns nicht mehr, den Großteil der abhängig Beschäftigten zu organisieren. Uns gelingt es auch nicht, die wesentlichen Arbeitskonditionen für den Großteil der Beschäftigten per Tarifvertrag zu garantieren. Man kann diese Fehlentwicklung weder mit der Konjunktur, noch mit arbeitsmarktlichen Entwicklungen erklären. Derzeit arbeiten in Deutschland rund 46 Millionen Menschen. Doch die Anzahl der in DGB organisierten Beschäftigten steht mit 5,65 Millionen Mitgliedern im Jahr 2022 auf einem Tiefpunkt! Auch unsere Gewerkschaft ver.di hat seit 2001 rund eine Million Mitglieder verloren.

Die Mitgliederverluste von ver.di in den vergangenen 22 Jahren lassen sich weder durch die Arbeitsmarktentwicklung, noch mit konjunkturellen oder politischen Ereignissen erklären. Sie haben ihre Ursache in einer nicht funktionierenden Arbeitsorganisation (Matrix), entstanden durch einen Formelkompromiss im Überbau der Organisation von ver.di.

Diese Entwicklungen kritisiere ich immer wieder und werbe dafür, diese Krise richtig zu analysieren, offen und ehrlich zu diskutieren und gemeinsame Wege und Lösungen aus der Krise zu finden.

Da sollte man sich auch nicht davon blenden lassen, wenn der ver.di-Vorsitzende und der Bundesvorstand sich freuen und feiern, weil im ersten Quartal des Jahres über die 70.000 Neumitglieder der ver.di beigetreten sind! Im Übrigen werden die Austritte im ersten Quartal 2023 dabei immer ausgeblendet.

Was kritisiere ich konkret?

Der DGB und ver.di befinden sich in einer tiefgreifenden Krise. Nach 22 Jahren ist heute klarer denn je: der Zusammenschluss der fünf Quellgewerkschaften hat nicht zur Stärkung von ver.di geführt. ver.di befindet sich in einer tiefgreifenden Krise.

Es ist eine Krise

  • der Mitgliederentwicklung,
  • der rückläufigen Mitgliedsbeiträge und somit der Handlungsfähigkeit;
  • eine tarifpolitische und insgesamt eine politische Krise.
  • eine organisationspolitische Krise der Gewerkschaft, in der das beitragszahlende Mitglied immer mehr entmachtet wird und sich in der eigenen Organisation immer weniger wiederfindet.
  • zwischen der Gewerkschaft als Apparat und ihren Mitgliedern, die als eine regelrechte Entfremdung stattfindet.

Die Ursachen. Auslöser und Wirkungen der Krise werden allerdings nicht richtig analysiert und auch nicht beim Namen genannt. Dabei stehen alle in einem Zusammenhang. Ohne eine zutreffende Analyse kann man aber in einer Krise nicht gegensteuern. Das sollte eine der Kernaufgaben des Bundesvorstandes sein, der bei der Krisenbewältigung jedoch nur Ansätze von unzureichender Symptombekämpfung verfolgt, anstatt an die Wurzeln zu gehen.

Krisen kann man erfolgreich bewältigen und aus ihnen gestärkt hervorgehen, wenn man sich erstens als Organisation die Krise eingesteht und sie beim Namen nennt und zweitens die gesamte Organisation (Ehrenamtliche wie Hauptamtliche) in Maßnahmen gegen die Krise einbezieht. Krisen werden nicht überwunden, wenn man die Schuld immer anderswo sucht (bei der Politik, bei Konzernen und ihren Verbänden, Covid etc.). Die ver.di-Krise ist größtenteils selbst verursacht, und damit liegt auch die Lösung zu ihrer Überwindung in unserer Hand.

Diese Fehlentwicklungen kritisiere ich, und das nicht erst seit gestern. Aufgrund der Krise von ver.di werbe ich für einen Kassensturz und eine Kursänderung, damit wir kritisch nach Wegen aus der Krise suchen. Ich habe dazu einige Vorschläge und Ideen entwickelt und stelle sie in der Organisation zur Diskussion.

Doch statt einer notwendigen inhaltlichen Diskussion, überzieht mich der ver.di-Bundesvorstand seit Bekanntgabe meiner Kandidatur im April 2022 mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen und Maßregelungen. Und diese ganzen Maßnahmen binnen kurzer Zeit, weil ich zunächst des Öfteren intern meine Kritik an den Fehlentwicklungen geäußert habe und am 22. April 2022 meine Kandidatur für den Bundesvorstand bekannt gab.

Selbst meine Teilnahme an der ganzen Konferenz des Bundesfachbereichs inklusive der Bundesfachgruppenkonferenzen wurde vehement von Nutzenberger, Werneke & Co. verhindert.

Ich darf heute hier lediglich 15 Minuten zu Euch sprechen, während meiner Gegenkandidatin Silke Zimmer seit letztem Jahr alle Bühnen gegeben wurden. Bitte seht es mir nach, wenn ich heute mehr als 15 Minuten rede. Als Kandidat für den Leiter des Fachbereichs Handel und als euer Vertreter im Bundesvorstand werbe ich für ein politisches Konzept zur inhaltlichen Ausrichtung des Fachbereichs Handel und ver.di als Gesamtorganisation. Denn die Ausrichtung der Gesamtorganisation betrifft auch Euch und die Zukunft des Handels. Ich habe viele Ideen, Inhalte, aber auch Kritik, und 15 Minuten reichen da nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Das Nominierungsverfahren war und ist satzungswidrig gelaufen

Das Nominierungsverfahren für die Leitung des Bundesfachbereich Handel im Bundesvorstand der ver.di ist meines Erachtens nicht demokratisch legitimiert und nicht satzungskonform gelaufen. Daher wird ggf. dieser ganze Nominierungsprozess, unabhängig vom heutigen Ergebnis, rechtlich geprüft werden müssen. Das ist insoweit wichtig, damit niemand künftig die Regularien aus der Satzung und Statuten missachtet und zu Gunsten einer oder anderen Seite, je nach Kräfteverhältnissen, beliebig ändert oder lebt.

Die Vornominierung von Silke Zimmer Ende Juni 2022 war und ist bereits satzungswidrig. Denn der Bereich Organisationspolitik antwortete mir auf meine schriftliche Frage „Welche Kandidaturen werden berücksichtigt und welche werden von vorne weg nicht akzeptiert?“ wie folgt:

„Für die – aktuell – 5 Vertreter*innen der Fachbereiche gibt es entsprechend den Satzungsvorgaben ein abschließendes Nominierungsrecht der Bundesfachbereichskonferenzen.“

Demnach sind Vornominierungen in der ver.di-Satzung, mit Ausnahme in Fusionsfachbereichen, keineswegs vorgesehen. Auch in den Fachbereichsstatuten Handel existiert kein Vorschlagsrecht des Bundesfachbereichsvorstands. Trotzdem wurde Silke Zimmer in meiner Abwesenheit am 29. Juni 2022 vornominiert und durfte sich seitdem Land auf Land ab in allen möglichen Gremien vorstellen und für ihre Kandidatur werben. Mir wurde hingegen keinerlei Möglichkeit eingeräumt, mich als Kandidat vorzustellen und für meine Positionen zu werben. Das hat mit demokratischen Wahlen und Nominierung nullkommanull zu tun. Schlimm finde ich ja, dass Kollegin Silke Zimmer sich für dieses zu tiefst undemokratisches Verfahren hergab und hergibt.

Zu Einordnung möchte ich gerne aus der ver.di-Satzung zitieren:

„(…) § 5 Zweck, Aufgaben und Ziele

3. Zur Erreichung dieser Ziele dienen insbesondere:

h) Einsatz für eine pluralistische Gesellschaft, in der Toleranz und gleiche Rechte gelten, unabhängig von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, vom Alter oder der sexuellen Identität,  

i) Auseinandersetzung mit und Bekämpfung von faschistischen, militaristischen und rassistischen Einflüssen,

l) Vertretung der Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Migrationshintergrund insbesondere durch Förderung und Realisierung gesellschaftlicher, betrieblicher und sozialer Integration sowie der aktiven Auseinandersetzung mit migrationsspezifischen Fragen und Problemen,

§ 10 Allgemeine Rechte und Pflichten der Mitglieder

a) nach Maßgabe der Satzung zu wählen und gewählt zu werden sowie in den Organen, Beschlussgremien und sonstigen Gremien sowie den weiteren Einrichtungen der ver.di mitzuwirken,

b) seine Meinung in allen gewerkschaftlichen Angelegenheiten frei zu äußern,

§ 20 Grundsätze

1. ver.di ist nach demokratischen Grundsätzen aufgebaut. Abstimmungen und Wahlen sind nach diesen Grundsätzen durchzuführen. (..)“

ver.di greift zu arbeitsrechtlichen Mitteln und Maßregelung

Die Maßnahmen, die der ver.di-Bundesvorstand gegen mich bisher einleitete, haben nichts mit den demokratischen Grundsätzen unserer Organisation zu. Vielmehr sind sie einer Gewerkschaft unwürdig und haben mit unseren Werten nichts zu tun.

Seit der ver.di-Gründung im Jahr 2001 bin ich der erste Gewerkschafter mit Migrationsgeschichte, der seine Kandidatur für den Bundesvorstand erklärt hat. Aufgrund meiner über zwanzigjährigen und – bis zum Zeitpunkt der Ankündigung der Kandidatur – immer hochgelobten Gewerkschaftsarbeit war ich hierbei auch der Überzeugung, dass meine Kandidatur entsprechende Unterstützung durch den ver.di-Bundesvorstand finden würde.

Doch seit der Ankündigung meiner Kandidatur werde ich regelrecht aus ver.di rausgedrängt und mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen überhäuft.

Kurze Zeit nach der Ankündigung meiner Kandidatur legte mir ein Mitglied des ver.di-Bundesvorstands nahe, die Kandidatur zurückzuziehen.

Doch damit nicht genug: Der Bundesvorstand überzog mich mit diesen Maßnahmen

  • im 2021 und 2022 dreifach die interne Revision gegen mich eingeschaltet, mit dem Verdachtsvorwurf ich hätte u.a. versucht die Organisation bei den Reisekosten um rund 14 Euro (!) zu betrügen oder wegen möglicher Arbeitszeitbetruges. Die Revision hat diese Vorwürfe alle geprüft und dargelegt, dass keine dieser Vorwürfe und Verdächtigungen stimmte.
  • zwei Ermahnungen
  • zwei fristlose Kündigungen,
  • Absetzung als Bundesfachgruppenleiter,
  • meine Tarifvollmachten wurden widerrufen,
  • Versuch mir den Zutritt in mein Büro und in das Gewerkschaftshaus zu verweigern,
  • Deaktivierung meines dienstlichen Notebooks und meine E-Mail-Accounts
  • Sperrung der Diensthandynummer
  • Aufforderung meine Aufsichtsratsmandate niederzulegen,
  • fünf Monate lang kein Cent Gehalt,
  • Räumung meines Büros wurde im Vorfeld einer gerichtlichen Entscheidung
  • Maulkorb, dass ich nicht mit Medien reden darf

Nach der gerichtlichen Entscheidung setzte der Bundesvorstand seinen Kurs, den wir normalerweise von Union-Busting-Unternehmen kennen, fort. Ab Januar dieses Jahres ließ der Bundesvorstand

  • Berufung gegen das klare Urteil des Arbeitsgerichtes einlegen
  • mich zwangsbeurlauben wegen Überstunden (ohne eine Vereinbarung)
  • mich in ein Ressort versetzen, wo ich seit 1. März wie ein Praktikant Broschüren überarbeiten habe
  • mich dreifach abmahnen:

Eine Abmahnung wegen einem Facebook-Post, wo ich den Tarifabschluss von ver.di bei einem Edeka-Nord Standort kritisiere. Eine zweite Abmahnung bekam ich wegen meinem Appell in junge Welt, dass wir die Post-Tarifrunden und den Arbeitskampf bei Amazon verknüpfen sollten. Die Dritte Abmahnung wurde mit einem Interview in der Wochenzeitung „Unsere Zeit“ begründet, wo ich meine Ideen für die künftige Tarif- und Branchenpolitik im Handel skizziert hatte. Das alles habe ich als Mitglied und Kandidat für den ver.di-Bundesvorstand kundgetan. Und deswegen wurde ich abgemahnt. Mir wurde also seit letztem Jahr ein Maulkorb verpasst und untersagt, mit Medien zu reden. Und weil ich von meinem Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß Grundgesetz Gebrauch gemacht habe, wurde ich im März 2023 dreifach abgemahnt. Und das, obwohl mein Recht, mich als Kandidat öffentlich zu äußern, auch im Urteil des Arbeitsgerichts festhalten wurde.

  • abgruppieren
  • ver.di gewährt mir nun keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und auch keinen bezahlten Erholungsurlaub, weil nachdem Gerichtsurteil einen Prozessarbeitsverhältnis mit ver.di abgelehnt habe.

ver.di verliert vor Arbeitsgericht und legt Berufung ein

Gegen die Kündigungen und die anderen arbeitsrechtlichen Maßnahmen habe ich geklagt und vor dem Berliner Arbeitsgericht die Klagen gegen die Kündigungen (inkl. meinen Antrag auf Weiterbeschäftigung als Bundesfachgruppenleiter) auch gewonnen. Das Verfahren betreffend der Abberufung als Bundesfachgruppenleiter sowie Widerruf der Tarifvollmachten ist erstinstanzlich noch nicht entschieden.

Obwohl das Gericht am 13.12.2022 entschied, dass ich „bis zu einer rechtkräftigen Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigungen als Leiter der Bundesfachgruppe Einzelhandel in der Bundesverwaltung Ressort 8, Fachbereich Handel weiter zu beschäftigen“ bin, hat der Bundesvorstand mich in das Ressort 2 versetzt.

Anstatt das Urteil zu akzeptieren, legte der ver.di-Bundesvorstand Berufung ein zieht damit vor dem Landesarbeitsgericht (LAG). Damit ist das Urteil des Arbeitsgericht Berlin noch nicht rechtskräftig.

Als Grundlage der ganzen arbeitsrechtlichen Maßnahmen legt der Bundesvorstand einen Beschluss zu Grunde:

Ich zitiere den Beschluss vom 18.08.2022 des Bundesfachbereichsvorstands Handel, mit dem der ver.di-Bundesvorstand seine die arbeitsrechtlichen Maßnahmen und seine Kündigungen gegen mich begründet hat:

„Verleumdungsjournalismus“ und „Pseudojournalismus“ heißt es u.a. darin. Es fehlt nur noch „Lügenpresse“! Weiter heißt es in dem Beschluss: „Wir verurteilen einen Pseudojournalismus, welcher ohne einzigen Beleg, Vorwürfe in Frageform gekleidet in Umlauf bringt und übler Nachrede und Rufschädigung Tür und Tor öffnet.“

Damit warfen der Bundesvorstand und der Bundesfachbereichsvorstand mir vor, ich sei die Quelle der Berichterstattung über die Vorwürfe zu Vetternwirtschaft in ver.di-Handel.

Während man bei der Presse mangelnde Belege anprangert, hat der Bundesvorstand bei seinen Kündigungen keinerlei Belege vorlegen können. Deswegen hat der Bundesvorstand u.a. auch eine „Verdachtskündigung“ gegen mich ausgesprochen.

An dieser Stelle ein kurzer Exkurs. Ihr erinnert Euch sicherlich an den Fall „Emmely“, eine Verkäuferin bei der ehemaligen Supermarktkette „Kaiser’s! Die gekündigte „Emmely“ musste sich vor dem Landesarbeitsgericht Berlin gegen „Kaiser’s“ wegen des dringenden Verdachts einer Unterschlagung wehren. Die Rechtsprechung zur sog. Verdachtskündigung, den auch ver.di und der DGB scharf kritisieren, hat ihre Vorläufer aus der Nazizeit.

Die Internetplattform Labournet schrieb in diesem Zusammenhang: „[Die] Konstruktion des „Vertrauensverhältnisses“ direkte Folge der Konzeption des „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses“ war und ist, wie sie erstmals (!) in dem Gesetz über die Ordnung der nationalen Arbeit der Nazis aus dem Jahre 1934 auftaucht. Hier war die Ursache für die spätere Rechtsprechung zur sog. Verdachtskündigung des Reichsarbeitsgerichts, die dann nahtlos vom Bundesarbeitsgericht im Jahre 1955 übernommen wurde.“ (vgl.: www.archiv.labournet.de/branchen/dienstleistung/eh/emmely_geffken.pdf

Der ver.di-Gewerkschaftsrat hat sich bereits in aller Öffentlichkeit gegen den Ausspruch von Verdachtskündigungen ausgesprochen. In 2010: „Und Verdachtskündigungen müssen endlich verboten werden! Was für die Arbeitgeber draußen gefordert wird, sollte innerhalb einer Gewerkschaft mit gutem Beispiel vorgelebt werden!“ positionierte sich am 28.2.2023 der Betriebsrat von ver.di-Bundesverwaltung.

Doch davon will der Bundesvorstand anscheinend nichts wissen. Anstatt diesen Vorwürfen nachzugehen, diese aufzuarbeiten und aufzuklären und den Mitgliedern das Ergebnis der Prüfungen vorzulegen, wurde ich gekündigt. Und das weil ich in der Öffentlichkeit eine lückenlose Aufklärung zur Abwendung von Schaden für ver.di eingefordert habe. Ich frage Euch: Wer verhält sich gewerkschaftsschädigend: Wohl diejenigen, die diese Vorwürfe bisher nicht ausgeräumt haben und nicht ich, der eine lückenlose Aufklärung für notwendig erachtet.

Wenn man wegen 14 Euro die Revision einschaltet – man sollte jede Verfehlung im Umgang mit Mitgliederbeiträge nachgehen, keine Frage – so ist doch die Frage, warum man den Vorwürfen zu der Vetternwirtschaft nicht nachgeht, obwohl es hier um Summen geht, die zehntausende Euros beinhalten!?

Der ver.di-Bundesvorstand hat es in der Hand gehabt, diesem Trauerspiel ein Ende zu setzen und mich an meinen Arbeitsplatz im Handel zurückkehren zu lassen. Es ist weder zielführend noch im Sinne unserer Mitglieder, wenn inhaltlichen und gewerkschaftspolitischen Konflikten mit Formalismus, mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen und nun mit betriebsöffentlicher Diffamierung und Diskreditierung meiner Person begegnet wird. Juristische Auseinandersetzungen vor den Arbeitsgerichten nutzen niemandem und freuen nur unsere gemeinsamen Gegner.

Meine Gegenkandidatin Silke Zimmer hat bisher bei dieser undemokratischen Nominierung fröhlich mitgemacht. Auch wenn Silke Zimmer zu all dem nichts sagt, sagt ihre schweigende Haltung sehr viel über sie aus!

Vorschläge für inhaltliche und tarifpolitische Weiterentwicklung

Tarifverträge und Tarifpolitik sind das Kerngeschäft der Gewerkschaften. Und genau im Kerngeschäft sind wir als ver.di Handel mehr oder minder bankrott. Denn die Tarifbindung im Handel geht seit Jahren den Bach runter. ver.di ist nicht mehr in Lage, die Erosion der Tarifbindung zu stoppen.

Im Groß- und Außenhandel wenden 82% der Betriebe keine Tarifverträge an.

Im Einzel- und Versandhandel wenden 83% der Betriebe keine Tarifverträge an.

Es gibt ganze Segmente in der Handelsbranchen ohne Tarifbindung. Die sogenannten „Pure-Player“ wie Amazon, Zalando, jd.com aber auch die Online-Lieferdienste wie Flink, Flaschenpost, Wolt, Getir sind tariffreie Zonen.

Die Entgeltstrukturreform im Einzelhandel ist gescheitert. Als ver.di Handel sollten wir ehrlich sein und nicht den Anschein erwecken, man könne den „toten Gaul“ Entgeltstrukturreform im Einzelhandel zu einem Ergebnis bringen. Das ist völlig illusorisch! Es ist daher höchste Eisenbahn, die Tarifverträge proaktiv und mit eigenen Vorschlägen zu modernisieren und auf die Unternehmen und ihre Verbände zuzugehen.

Für bundesweit einheitliche Tarifverträge im Handel

In vielen Branchen haben wir nach wie vor Tarifverträge, die auf regionaler Ebene (Landesbezirke) abgeschlossen werden. Regionale Besonderheiten, die das einst begründeten, sind längst überholt. Regionalität im Sinne einer breiten basisorientierten Beteiligung ist auch ohne regionale Tarifverträge möglich. Statt daran festzuhalten, was unnötig Geld und Zeit kostet, sind Tarifverträge auf der nationalen und internationalen Ebene anzugehen und umzusetzen.

Die maßgeblichen kapitalistischen Unternehmen agieren national und global. Als Tarifgewerkschaft sollten wir den Blick auf die Wertschöpfungs- und Lieferketten richten und Tarifverträge entlang dieser Ketten anstreben. Hierfür ist im ersten Schritt eine Vereinheitlichung von Flächentarifverträgen durch bundesweite Tarifverträge oder zumindest einen Rahmentarifverträge mit Mindeststandards notwendig. Das würde sich auch positiv auf unsere Forderungen zur Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit (AVE) auswirken.

Die meisten gewerkschaftlichen und inhaltlichen Überschneidungen in den Fachbereichen D und E liegen im Bereich der Logistik, Handelslogistik, Spedition, Handelsspedition, aber auch im Bereich der Logistik und Versand/Spedition des Online- und Versandhandels bis zu der sogenannten „letzten Meile“. In Bezug auf die ausgeübten Tätigkeiten, den Entwicklungen in den genannten Teilbranchen und Unternehmen, und in Bezug auf die Tarifarbeit / Tarifpolitik ist eine engere und konkretere Zusammenarbeit in diesen Teilbranchen möglich, aber auch dringend nötig. Daher sollten die Bundesfachbereiche Handel und PSL die Idee zur Errichtung einer gemeinsamen „Bundesprojektgruppe Logistik, Handelslogistik, Speditionen“ in den jeweils zuständigen Gremien beraten und festlegen.

Vier Beispiele für Fehlentwicklungen und Fehleinschätzungen durch ver.di

Galeria Karstadt Kaufhof (GKK)

Das aktuelle Vorgehen von ver.di ist nicht von Erfolg geprägt. Vermutlich hält sich Silke Zimmer deshalb auch bei GKK bedeckt. Von einer Bundesfachbereichsleitung und Bundesvorstandsmitglied sollte man aber erwarten können, dass die Personen Verantwortung übernehmen und auch schwierige Themen angehen.
 Bei einem bankrotten Unternehmen wie GKK die sofortige Rückkehr zu Flächentarifverträgen zu fordern, ist illusorisch und zum Scheitern verurteilt. Wenn ver.di so bei GKK weitermacht, so liefern wir der anderen Seite alle Vorwände, damit diese komplett aus der Tarifbindung aussteigen und den betrieblichen Weg der Lohnfindung gehen werden. Globus hat ja diesen Weg vor mehr als zehn Jahren bestritten, und daran war auch ver.di Mitschuld. Man sollte aus diesen Fehlern lernen. Ich werbe daher entweder für einen Spartentarifvertrag für Kauf- und Warenhäuser oder einen Haustarifvertrag bei GKK. Im Übrigen war es ein Kardinalfehler, dass ver.di im Herbst letzten Jahres sich nicht für einen weiteren Staatskredit für GKK starkgemacht hat. Durch die Insolvenz hat ver.di sich massiv selbst geschwächt und damit unseren Mitgliedern keinerlei Gefallen getan.

Rewe Group (New Deal)

Bei Rewe haben wir 2 Jahre lang mit dem Unternehmen Gespräche über ein Tarifprojekt mit dem Titel „New Deal“, welches der Gesamtbetriebsrat und die Geschäftsleitung in einem ersten Schritt entwickelt hatten, gesprochen. Danach haben wir ein Jahr lang mit einer Sondierungskommission die Inhalte des Projektes sondiert. Es ging dabei um die Aufstockung der tariflichen Altersvorsorge, die Erhöhung des Urlaubsgeldes, einen Tarifvertrag über Nachhaltigkeit und Ökologie aber auch um einen Tarifvertrag für Nachwuchskräfte und Azubis. Als Gegenleistung sollten drei Themen in den Manteltarifverträgen der Länder harmonisiert werden. Also insgesamt ein Tarifwerk, mit dem wir als ver.di sowohl bei Rewe als auch Penny, bei rund 100.000 Beschäftigten in den Filialen, hätten mehr als punkten konnten. Das Unternehmen hatte auch zugesagt, dass wir nach dem Tarifabschluss über alle Unternehmenskanäle diesen Tarifvertrag auch gemeinsam vorstellen – das war für ver.di eine einmalige Chance, in der Breite neue Mitglieder zu werben.

Obwohl die Sondierungskommission einstimmig das Ergebnis im Dezember 2021 zur Diskussion in den Landesbezirken empfohlen hat, haben die Landesfachbereichsleitungen dieses Projekt begraben! Mit diesem Vorgehen hat ver.di die ehrenamtlichen Gremien bei Rewe und Penny völlig vor den Kopf gestoßen und sich tarifpolitisch und zum Teil auch betriebspolitisch ins Abseits manövriert.

Amazon

Am 14. Mai 2023 haben wir den 10. Jahrestag der Arbeitskämpfe bei Amazon. Doch ausgerechnet in diesem Jahr hat der Bundesvorstand die Anzahl der Streiktage bei Amazon reduziert. Das ist das falsche Signal an den Onlinegiganten und wird von ver.di-Aktiven mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen.

Das Vorgehen von ver.di bei Amazon ist aktuell mehr als plan- und kopflos. Eine Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Strategie fehlt, der Bundesvorstand ist nicht in der Lage, für ein gemeinsames Vorgehen in dem Konzern Sorge zu tragen. Die unterschiedlichen Fachbereiche machen Aktivitäten aneinander vorbei. Der Konzern hat die Löhne und auch die Sonderzahlung erhöht: Damit liegen die Einkommen der Amazon-Beschäftigten z.T. über unseren Flächentarifverträgen.

Aus meiner Sicht ist es dringend notwendig, den Weg für einen Spartentarifvertrag für die Online- und Versandhändler zu begehen. Damit könnten wir auch die Online-Lieferdienste wie Flink, Wolt, Getir etc. ebenso tarifieren.

Kürzlich haben Betriebsräte aus ganz Deutschland mit einem offenen Brief für eine Inflationsausgleichsprämie geworben. ver.di hat sich geweigert, diese Forderung zu unterstützen und hat mit dieser Fehlentscheidung die ver.di-Aktiven in den Amazon-Standorten im Regen stehen lassen. Der selbe ver.di-Bundesvorstand hat aber bei der Post, in den Tarifverhandlungen im Bereich Papier, Pappe und Kunststoffe die Inflationsausgleichsprämie tarifiert. Und auch in der Tarifrunde Öffentlicher Dienst können wir eine Wette darauf abschließen, dass ver.di eine Inflationsausgleichsprämie tarifieren wird! Also warum wurde und wird das bei Amazon abgelehnt!?

Und noch etwas: Die Signale, die das Tarifergebnis bei der Post und die nun vorliegende Schlichtungsempfehlung im öffentlichen Dienst ausgesendet haben, machen uns die Auseinandersetzung in den aktuellen Tarifrunden im Handel nicht leichter. Monatelange Nullrunden, die durch sogenannte Inflationsausgleichzahlungen abgefedert werden, sind ein Holzweg. Und sie führen unsere Gewerkschaft letztlich noch weiter in die Krise!

H&M und Ikea

Bei H&M ist uns ein historischer und einmaliger Tarifvertrag zu Digitalisierung gelungen. Mit diesem modernen Tarifvertrag haben wir die Mitbestimmung rund um die Fragen der Digitalisierung erweitert. Und die Beschäftigen erhalten eine weitere Sonderzahlung (neben Urlaubs- und Weihnachtsgeld!). Anstatt diesen Tarifvertrag in der Breite bekannt zu machen, damit in den Betrieben zu werben, wird dieser Tarifvertrag schlechtgeredet. Angeblich wäre dieser Tarifvertrag nicht mitgliederwirksam. Die längst überholten und nicht zeitgemäßen Flächentarifverträge sind also mitgliederwirksam, während der H&M-Tarifvertrag das nicht ist; ich bitte euch – lasst die Kirche im Dorf!

Und wenn der H&M-Tarifvertrag nicht gut ist, so ist Frage, warum wir dann bei Ikea für einen Zukunftstarifvertrag werben, der genau diese Themenkomplexe tarifieren soll.

Notwendige Änderungen der Struktur der Organisation

Eine Dreigliedrigkeit in Organisationseinheiten wie Bezirk, Landesbezirk und Bundesfachbereich ist überholt und hat uns nicht nach vorne gebracht. Daher sind die Ressourcen von ver.di auf der Bundesebene wie auf den Landesebenen auf das Notwendigste zu reduzieren. Die Landesebene als eigenständige Einheit ist abzubauen, zumindest für den privaten Dienstleistungssektor. In einer offenen und ehrlichen Debatte ist zu klären, wieviel finanzielle und personelle Ausstattung die Landesbezirke noch benötigen. Ebenen und Zuständigkeiten von Fachbereichen sind zu Kompetenz- und Aufgabenbereichen zusammenzulegen bzw. aufzulösen.

Sprich, künftig keine Landesbezirke – und auch die Frage, ob wir Fachbereiche brauchen, muss kritisch diskutiert werden. Die eigentliche Arbeit, die uns stärkt, muss möglichst mitgliedsnah und betriebsnah organisiert werden. In der Organisation läuft die eigentliche operative Arbeit in den Fachgruppen. Alle Ressourcen der Organisation müssen in der Arbeit vor Ort, sprich in die Bezirke für die Betreuungsarbeit und für die Fachgruppen, Vertrauensleute und ver.di-Betriebsgruppen kanalisiert werden.

In den nächsten Jahren gehen viele ältere hauptamtliche Kolleg*innen in den Ruhestand. Wir sollten die Stellen dieser Kolleg*innen in der Bundesverwaltung und in den Landesbezirken sukzessive nicht nachbesetzen, sondern diese Stellen und Stellenanteile für die bezirkliche und betriebliche Arbeit einplanen.

Als Kandidat stehe ich für tiefgreifende Veränderungen, um ver.di als Gesamtorganisation, aber auch den Fachbereich Handel wieder durchsetzungsstark und mächtig zu machen. Das gelingt nur, wenn wir die Basisdemokratie ernst nehmen und unsere Arbeit auf die Bedürfnisse unsere Aktiven und Mitglieder in den Betrieben ausrichten.