14. Juli 2024

«Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken»

Der Autor dieses Beitrags (rechts) mit Franz Schütz und Orhan Akman
Der Autor dieses Beitrags (rechts) mit Franz Schütz und Orhan Akman

von Fritz Schmalzbauer, ehemaliger DGB-Vorsitzender im Raum Nürnberg, Schulungsleiter für Betriebsräte und Gewerkschaftsmitglied seit 1962

«Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken» – Mit diesem Satz hat sich der Gewerkschafter Willi Bleicher in die Geschichte eingeschrieben. Nicht, dass er ihn erdacht, erfunden hätte. Diese Idee hat seine Wurzeln in der Geschichte der Unterdrückten im Gefecht gegen die Unterdrücker. Wendelin Hippler in den deutschen Bauernkriegen, Spartacus gegen die Herrschenden in Rom, Der Arzt Marat gegen die Beschwichtiger der Französischen Revolution, Martin Luther King gegen den Rassismus der «modernen» USA, Frantz Fanon als Empfehlung an die aufständischen Afrikaner, Engels, gerichtet gegen seine eigene Klasse, Heinz Oskar Vetter, «mein» DGB-Vorsitzender in einer klug geschriebenen Rede: «Nach wie vor gilt es, die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu überwinden», der eigentliche Sinn der Mitbestimmung auf dem Weg zur Selbstbestimmung…

Ich kannte den Ex-Kommunisten und später «wahren» Sozialdemokraten Willi Bleicher. Seine Gewerkschaft, die IG Metall, akzeptierte diese herausragende Persönlichkeit mit dem Akzent von Hegel: erfolgreicher Bezirksleiter von Baden-Württemberg und damit im Vorstand. Wer damals unter dem Eindruck des Kalten Krieges in den Gewerkschaften aus dem «linken Lager» für eine Schlüsselposition berufen wurde, brauchte ein nachweislich antifaschistisches Profil und «wahre Sozialdemokratie». (Bei meinem Einstellungsgespräch als Jugendsekretär im DGB München in den 60zigern nahm der örtliche Vertreter der IG Metall die Rolle des Inquisitors ein: «F, bist du auch wirklich Sozialdemokrat?» Klar, ich hatte das Parteibuch mit ordentlich geklebten Marken. Am Weg zum Hauptvorstand der IG Druck und Papier überwiegten dann die aus Eigennutz und politisch motivierten Bedenkenträger, einstimmiger Beschluss des Hauptjugendausschusses hin oder her. Auch innengewerkschaftliche Demokratie hat/hatte ihre Grenzen.

Aber es geht längst nicht mehr um mich, sondern um meinen Freund und Weggefährten Orhan Akman. In gewisser Weise ist er hauptamtlich politischer Sekretär für den Vorstand der wegfusionierten IG Medien. Immerhin kommt der Vorsitzende Frank Werneke aus «unserem Stall». Also, nichts für ungut. Der alte Kalte Krieg ist zu Ende, Entspannung und Abrüstung auch, der Russe hat vielleicht sogar wieder Berlin im Auge und deutsche Altgediente samt ihrer Jungen Garde sehen sich – zumindest in den Tiefen des vererbten Unterbewusstseins – vermutlich als Rächer für Stalingrad. Richtig, es geht nicht um die Kriegsverbrechen, sondern um den Krieg, der in täglichen Schlachten in Betrieben und Unternehmen ausgefochten wird. Es geht auch, so Willi Bleicher, um Kompromisse, um Waffenstillstände, um Tarifverträge. Zumindest wenn sie für die Arbeitenden gut sind. Es geht um Betriebsräte, wenn überhaupt, fristlos gekündigt, um die unzureichende Mitbestimmung der 70er. Es geht um den aufrechten Gang der Leute, die jeden Tag die Werte schaffen, von denen eine verschwindende Minderheit überwiegend profitiert. Um Kapitalismus eben.

Orhan Akman 2013 bei einer Kundgebung
Orhan Akman 2013 bei einer Kundgebung

Um den Kapitalismus, dem sich Willi Bleicher zu stellen hatte? Im Prinzip ja. («Nach wie vor…» siehe oben). In der Form nein. Marx hatte recht. Der Kapitalismus sucht bei Strafe seines Untergangs jeden Winkel, den er noch nicht ausbeutet, ändert Strategie und Taktik, konzentriert in den Händen immer Weniger immer mehr. Er hat seine Bataillone von Juristen, Beratern, Staatsdienern, Politikern, unterwürfigen Hochschullehrern und treuen Meinungsmacher. Seine Nationalstaaten haben im Zweifel Armeen, manche davon Atomwaffen und haben einiges ist auf deutschem Boden in Stellung gebracht.

Seit 1989 bildet sich der Kapitalismus ein, er sei ewig. Ausgerechnet Papst Franziskus stellte das in Frage. Gut, dass ich getauft wurde. Der rasende Anpassungsdruck – Profite, Kredite, Produkte, Märkte – hat erneut eine Welle ausgelöst, dem einst das spätmittelalterliche Handwerk zum Opfer fiel. «Marketing» wird schon im Kindergarten eingebläut. Und die Rolle des Personalleiters wird in die Köpfe des Personals integriert: Ausgebeutet, sich selbst ausbeutend, aber glücklich – wenigstens nach Lehrbuch. Auf der anderen Seite: selber schuld, wenn der Kaufhof schließt. «Arbeitslos» ist eben ein Los, ein Schicksal, das der übriggebliebene Rest des Sozialstaates abzufedern hat. Vollbeschäftigung ist ein Fremdwort. Der Osten hat klein beigegeben.

Was hat dann Willi Bleicher zu suchen, wenn alles «ganz anders» ist? Erstens «Nach wie vor…», zweitens Gewerkschaft ist Streik- und Tariffähigkeit, muss Verhältnisse, Bedingungen erzwingen können. Willi Bleicher, der große Streikführer der IG Metall, hat immer vor dem zweischneidigen Messer der Streiks gewarnt. Falsch eingesetzt, stumpft es ab. Nicht eingesetzt, obwohl notwendig, macht es Gewerkschaften überflüssig. Gewerkschaft muss Instrumente vermitteln (Streikrecht, Betriebsverfassung, Arbeits- und Sozialrecht) und historisches Bewusstsein bündeln («Nach wie vor…»). Wissen um zu Handeln, Handeln um zu wissen. Kurzum: Die veränderten Arbeitsbedingungen und Kapitalverhältnisse brauchen veränderte Gewerkschaften, die «auf der Höhe der Zeit» sind. Wer das nicht begreift oder begreifen kann, wird von der Bildfläche verschwinden, die Leute in existenziellen Fragen sich selbst überlassen.

Zurück in die Geschichte von ver.di. Zu Recht hatte die IG Druck und Papier gegen die erste Betriebsverfassung (1952) einen Streik ausgerufen, dem die legalistische DGB-Führung nicht folgte. Die Bundesrepublik der «entnatzten Nazis» (Brecht), der «Wiederherstellung der alten Besitz- und Machtverhältnisse» (DGB Beschlusstext) verurteilte durch «entnazte Richter» die Gewerkschaft der Drucker in der Nachfolge von Gutenberg.

Danach säuberte intern das KPD-Verbot (1956) die Gewerkschaften: Nazi-Opfer wurden zu Tätern («geh’ doch rüber»). Im DGB wurde «aufgeräumt»: Eine umverteilende Tarifpolitik war nicht nach dem Geschmack der wieder Herrschenden. Viktor Agartz, Wirtschaftswissenschaftler des DGB, fiel dem zum Opfer. Später die staatlich betriebene Hexenjagd gegen ein missliebiges Vorstandsmitglied der IG Metall, zuständig für die betrieblichen Vertrauensleute: Heinz Dürrbeck. Sozusagen die Spitze des Eisbergs der neuen Eiszeit.

Willi Bleicher blieb. Sie wussten «Alle Räder stehen still…» wenn sich wer auch immer an Willi Bleicher vergreifen sollte. Er hatte nicht nur Charisma, er wurde auch von der Kapitalseite geachtet. Es ging immerhin um Daimler, Porsche u.s.w. Gewerkschaftsarbeit – wenn man sich als Hauptamtlicher «Arbeit» macht – hat auch immer einen politischen Charakter.

Orhan Akman versteht sich als «politischer Sekretär», führt an den Bücklingen vor, dass ein aufrechter Gang menschenwürdig ist, verbindet Ehren- und Hauptamt. Hat Führungsqualität. Fordert Veränderungen. Kann mehr als Telefondienst, das Betriebsverfassungsgesetz auf dem Schreibtisch. Orhan wiegelt auf, aber klug, macht Mut zum Aufstehen, nimmt Rosa Luxemburg ernst. Nur scharfe Kritik am eigenen Apparat und möglichen Fehlern macht diesen überlebensfähig und ist einer Organisation, die den arbeitenden Menschen verpflichtet ist, eine Ehre. Den Bücklingen, den Ideenlosen, ist so jemand im Weg. Die Hexenjagd gegen Orhan ist politisch, kulturell und durch Arbeitsscheue begründet. Nicht umsonst ist er in Kapitalistenkreisen geachtet – nicht beliebt, klar. Nicht vergessen: «Ausländer, Fremde sind es meist, die unter uns gesät den Geist der Rebellion. Derselben Sünder sind gar selten Landeskinder» (Heinrich Heine).