13. April 2024

Statt „Konzertierter Aktion“ im Bundeskanzleramt: Politischer Streik jetzt!

Orhan Akman muss derzweit zwangsweise von zu Hause aus arbeiten. Foto: privat
Orhan Akman muss derzeit zwangsweise von zu Hause aus arbeiten. Foto: privat

Von Orhan Akman, Kandidat für den ver.di-Bundesvorstand

Während die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP sich für das sogenannte dritte Entlastungspaket feiert, kam zum Teil scharfe und berechtigte Kritik von den Sozialverbänden und Gewerkschaften, darunter von Teilen der DGB-Gewerkschaften.

Reicht das letzte Entlastungspaket einschließlich der vorherigen Maßnahmen der Regierung gegen die Inflation, Preissteigerungen und die Not der Menschen aus? Keineswegs. Haben Appelle und Kritik der Sozialverbände und der Gewerkschaften die Regierung zu einer grundlegenden und dauerhaften Politikveränderung zu Gunsten der breiten Massen und vor allem der lohnabhängig Beschäftigten beigetragen? Wohl kaum!

Die Entlastungsmaßnahmen werden für viele Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sicher nicht reichen, um ihren Lebensstandard zu halten und ihre Existenz zukunftsfähig abzusichern. Viele Menschen leben von ihren Rücklagen oder müssen sich notwendige Reparaturen und Anschaffungen vom Mund absparen. Gemeinnützige Hilfsorganisationen wie die Tafeln und andere, die das staatliche Versagen bei der Armutsbekämpfung spätestens seit den Hartz-IV-Gesetzen auffangen, kollabieren angesichts des immer stärkeren Andrangs.

Das dritte Entlastungspaket kann, wenn überhaupt, nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein, denn die Regierung bekämpft die Symptome der Krise, aber nicht deren Ursachen. Die meisten Maßnahmen sind als Einmalzahlungen vorgesehen, während die Preise wohl dauerhaft gestiegen sind. Die Reallohnverluste der letzten Jahre, die auch die Gewerkschaften mitzuverantworten haben, kommen erschwerend hinzu. Dieses Entlastungspaket vergrößert zusätzlich die Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land.

Die „Frankfurter Rundschau“ kritisiert zu Recht das Entlastungspaket 3 der Ampel-Koalition: „Der Finanzminister möchte den Grundfreibetrag, also das Existenzminimum, auf das keine Steuern fällig werden, von 10.348 Euro auf 10.633 Euro im nächsten Jahr erhöhen. Im übernächsten Jahr soll der Beitrag auf 10.933 Euro steigen. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent soll 2023 bei einem zu versteuernden Einkommen von 61.972 Euro gelten, 2024 bei 63.521 Euro.

Menschen mit höherem Einkommen zahlen höhere Steuersätze, deshalb werden sie prozentual stärker entlastet als niedrige Einkommen. Menschen mit sehr geringem Einkommen müssen gar keine Einkommenssteuer entrichten – sie profitieren nicht von den Entlastungen des Finanzministers. Lindner möchte zwar 48 Millionen Menschen unterstützen – im Umkehrschluss gehen aber über 30 Millionen Menschen leer aus. Darunter sind selbstverständlich Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner, sowie Studierende.

Geringverdiener mit einem Jahresgehalt von 20.000 Euro bekommen nächstes Jahr 115 Euro mehr vom Brutto, 2024 sind es 198 Euro. Wer 40.000 Euro im Jahr verdient, wird um 250 Euro im kommenden Jahr und um 391 Euro im Jahr 2024 entlastet. Bei Gutverdienern, die mit einem Einkommen von um die 60.000 Euro den Spitzensteuersatz zahlen, liegen die Summen bei 479 Euro (2023) und 730 Euro (2024). Im Schnitt beträgt die Entlastung laut Ministerium für 48 Millionen Menschen 192 Euro.“ (https://www.fr.de/politik/christian-lindner-entlastungspaket-kalte-progression-inflation-fdp-zr-91717364.html)

Die Straße gehört uns!

In dieser Situation hilft es nicht, abzuwägen und zu appellieren, wie es die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi tut, wenn sie sagt man werde sich „genau Gedanken darüber machen, wie wir unserer Stimme noch mehr Gewicht verleihen – in den Betrieben oder auf Demonstrationen“. Es brauche nun mehr Entlastungen, “das muss jetzt schnell gehen. Wir werden sonst lauter.“

Es reichen aber weder Appelle noch mündliche Talkshow-Kritik an politischen Fehlentwicklungen in unserem Land. Die Regierung und die reiche Oberschicht der Gesellschaft werden sich dadurch nicht zu Gunsten der Mehrheit der lohnabhängig Beschäftigten bewegen. Es braucht unseren Druck und unseren spürbaren Protest. Bundesweite Demonstrationen von Sozialbündnissen und ver.di unter dem Motto „Solidarisch durch die Krise“ bzw. „#SolidarischerHerbst“ sind gut, können den notwendigen Druck aber nur bedingt erzeugen. Dies haben schon die früheren Proteste gegen sogenannte soziale Schieflagen gezeigt. Vor allem erzeugt es keinen Druck, wenn die DGB-Gewerkschaften nicht an einem Strang ziehen und Bündnisse nur aus Wenigen bestehen. Vielmehr führen nur leise Kritik, wirkungslose Appelle und Zögern zum Erstarken der Rechten, insbesondere der AfD, weil sie das politische Vakuum füllen, wenn von links und von den Gewerkschaften die großen Sorgen der Bevölkerung und der Beschäftigten nicht auf die Straße getragen werden. Es geht also auch darum, wer im Herbst die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit hat. Die Straße muss uns gehören!

Was tun?

Spürbarer politischer Druck ließe sich mit Streiks gegen die Energie- und Wirtschaftskrise erzeugen. Dazu reicht das undemokratisch eingeschränkte „Streikrecht“ in Deutschland jedoch nicht aus. Ein Ausstand wird durch die vorherrschende Rechtsprechung bislang nur als gesetzeskonform betrachtet, wenn in Tarifrunden die Beschäftigten mobilisiert werden.
Das in der Bundesrepublik geltende Verbot des politischen Streiks stammt von 1952 und basiert auf der damaligen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Das BAG hatte damals einen Streik in den Zeitungsbetrieben, mit dem Beschäftigte für mehr Rechte im Betriebsverfassungsgesetz kämpften, verboten, weil er politisch gewesen sei.

Das muss dringend geändert werden! Neben Deutschland haben nur noch Dänemark und Großbritannien kein politisches Streikrecht. In den anderen Teilen Europas ist es für die Menschen selbstverständlich, für politische Forderungen die Arbeit niederzulegen und auf die Straße zu gehen. Auf EU-Ebene gibt es längst eine Rechtsprechung, die den politischen Streik legitimiert. Und in vielen Teilen Europas regt sich längst Widerstand gegen die Krise. In Großbritannien ist der Gewerkschafter Mick Lynch zum lautesten Gegenspieler der Tory-Regierung geworden, er nimmt sich der Sorgen und Ängste der Beschäftigten an und prangert die Fehlentwicklungen vehement und öffentlich an. In Österreich hat der Gewerkschaftsbund Anfang September mehr als 32.000 Menschen auf die Straßen gebracht. Sie fordern unter anderem einen Mindestlohn von 2.000 Euro brutto pro Monat.

Auch in Deutschland gab es in der Vergangenheit viele politische Streiks. Beispielsweise riefen Reichspräsident Friedrich Ebert und die Gewerkschaften im März 1920 zum größten Generalstreik in der Geschichte Deutschlands auf. Dieser richtete sich erfolgreich gegen den faschistischen Umsturzversuch der Weimarer Republik (Kapp-Putsch). Und am 12. November 1948 beteiligten sich an einem Generalstreik in der damaligen britischen und amerikanischen Besatzungszone Westdeutschlands mehrere Millionen Menschen, um angesichts der steigenden Preise höhere Löhne zu fordern.

„Es kann legitim sein, was nicht legal ist“ (Martin Löwenberg)

Trotz des Verbots politischer Streiks legten 1968 Tausende Beschäftigte vieler Betriebe aus Protest gegen die Notstandsgesetze die Arbeit nieder, obwohl der DGB dies unterbinden wollte. Auch gegen das Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt streikten 1972 rund 100.000 Beamte, Angestellte und Arbeiter*innen. 1996 kam es zu zahlreichen Streikaktionen gegen den von der Regierung Kohl verfolgten Plan, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu kürzen. Diese Streikaktionen brachten das Gesetz schließlich zu Fall. Und 2007 folgten rund 300.000 Beschäftigte dem Aufruf der IG Metall zu „Protesten während der Arbeitszeit“ gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre.

Es ist nicht nur an der Zeit, unsere Forderung nach politischen Streiks auf die Agenda zu setzen, sondern den Anfang zu machen, die Arbeit niederzulegen und auf die Straße zu gehen. Ohne politischen Streik verpuffen Appelle und Kritik. Der politische Streik ist eine zwingende Notwendigkeit, um die politischen Fehlentwicklungen zu stoppen und die Interessen der Beschäftigten auf die Agenda der Politik zu setzen.

ver.di – klare Positionierung für den politischen Streik

Auch innerhalb von ver.di gibt es klare Positionierungen für den politischen Streik. Der langjährige ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske äußerte in einem Gastkommentar in der Zeitung „Neues Deutschland“ am 12. November 2010: „Viele politische Entscheidungen haben erheblichen Einfluss auf die »Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen«, deren »Wahrung und Förderung« durch die Gewerkschaften Artikel 9 Grundgesetz ausdrücklich schützt. Sich gegen politisch verursachte Verschlechterungen ihrer Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensbedingungen zu wehren, ist das gute Recht aller Arbeitnehmer.
 In diesen Wochen protestieren in Betrieben, Verwaltungen und auf der Straße mehr als drei Millionen Menschen gegen eine sozial ungerechte und einseitige Kürzungspolitik. Sie wehren sich gegen die Kopfpauschale, die Rente mit 67 und gegen Unternehmen, die Menschen fast nur noch befristet einstellen und immer mehr sozial ungeschützte Leiharbeiter beschäftigen. Sie sehen die Verarmung vieler Menschen, die arbeiten und dennoch von ihrem Lohn nicht leben können. Sie wissen: Gerecht geht anders!
 (..) Die Gewerkschaften und ihre Bündnispartner wollen nicht nur den Fahrplan durcheinanderbringen, sondern dass der Zug eine andere Richtung nimmt. Bahnsteigkarten sind in Deutschland abgeschafft.“

Die sogenannten „wilden Streiks“ u.a. bei Gorillas haben die berechtigte Forderung nach dem politischen Streik, aber auch die Kritik an dem eingeschränkten Streikrecht unseres Landes endlich in den öffentlichen Diskurs gerückt. Doch der ver.di-Bundesvorstand hat sich in der Öffentlichkeit zu den Streiks der Riders bei Gorillas nicht positionieren wollen.

Auch in der aktuell für sehr viele Beschäftigte dramatischen Situation mit hohen Preissteigerungen lehnen die Bundesvorstandsmitglieder von ver.di politische Streiks ab, so etwa Andrea Kocsis auf den von ver.di durchgeführten „Zukunftstagen“ Ende September. Dabei wird auf verschiedenen Ebenen unserer Organisation diese Forderung seit Jahren immer wieder von der Basis gestellt und findet sich in Beschlüssen der Bundeskongresse wieder. Beispielsweise forderte 2011 der Antrag A 077, „die Forderung nach dem politischen Streikrecht in die Grundsatzerklärung von ver.di aufzunehmen und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln politisch durchzusetzen.“ Dieser Antrag wurde auf dem Bundeskongress mit dem Hinweis auf Weiterleitung an den Gewerkschaftsrat angenommen. In einem Artikel der Tageszeitung „junge Welt“ aus dem gleichen Jahr hieß es zu diesem Beschluss: „»Wir haben uns für das politische Streikrecht entschieden«, stellte Gewerkschaftsvize Andrea Kocsis in der Debatte über einen Antrag klar, der die Aufnahme des Rechts auf politischen Streik sowohl ins Grundgesetz als auch in die ver.di-Satzung vorschlug.“ (https://www.jungewelt.de/artikel/171146.ver-di-bleibt-gem%C3%A4%C3%9Figt.html)

Auf dem Bundeskongress 2019 wurde ein noch weiter reichender Beschluss gefasst. In diesem heißt es: „ver.di fordert die komplette Legalisierung des politischen Streiks und des Aufrufes zu diesem. (…) Außerdem soll ein weitgehender Schutz der Beteiligten vor Kündigung oder Schadensersatzansprüchen installiert werden. Dazu soll sich ver.di europaweit für ein Recht auf politischen Streik einsetzen. Zusätzlich soll der politische Streik als politisches Mittel ausdrücklich in die ver.di-Satzung aufgenommen werden (auch bei keiner vorherigen umfassenden Legalisierung durch den Staat).“ (Antrag E 003 der Bundesjugendkonferenz, angenommen als Arbeitsmaterial zu Antrag E 001 – https://bundeskongress.openslides.verdi.de/motions/2111)

Warum also schweigt der ver.di-Bundesvorstand, anstatt sich jetzt im Sinne des Willens unserer gewerkschaftlichen Basis für den politischen Streik stark zu machen? Das würde nicht nur der Beschlussfassung des höchsten ehrenamtlichen Gremiums Rechnung tragen, sondern unsere Glaubwürdigkeit bei vielen Menschen und Beschäftigten stärken.

Statt den notwendigen Diskurs für den politischen Streik zu forcieren, Aktionen, Proteste und Streiks auf der Straße und aus den Betrieben zu organisieren, gehen die Spitzen der Gewerkschaft von einer „Konzertierten Aktion“ im Bundeskanzleramt zum nächsten „Spitzengespräch“ und „Krisengipfel“, wie zuletzt am 15. September 2022. Gespräche, Beratungen und Tagungen mit der Politik sind sicherlich notwendig, um gewerkschaftliche Inhalte in die Debatten zu tragen. In der aktuellen Situation ist die Teilnahme der DGB-Gewerkschaften an den Aktionen der Bundesregierung jedoch eher schädlich für uns.

Es ist Zeit, den Widerstand zu organisieren: Auf der Straße und in den Betrieben gegen Inflation, Preissteigerungen, wachsende Ungleichheit, gegen Lohndumping, Rentenklau und Tarifflucht zu organisieren. Wer sollte das tun, wenn nicht wir? Deshalb brauchen wir den politischen Streik dringender denn je.