12. April 2024

Die Kehrseite des 12-Euro-Mindestlohnes

Der gesetzliche Mindestlohn in unserem Land ist zum 1. Oktober 2022 auf 12,- Euro pro Stunde (Brutto) gestiegen. Das ist gut so. Das ist ein Erfolg der DGB-Gewerkschaften, allen voran von ver.di und NGG. Land auf Land ab feiern sich der DGB und einige Einzelgewerkschaften für diesen Erfolg. Auch die SPD feiert sich, samt einem Teil der Grünen.

Am 3. Oktober 2022 postete der DGB auf Facebook: „Seit dem 1. Oktober beträgt der gesetzliche Mindestlohn 12,- Euro. Gut so! Dafür haben wir gekämpft. Vor allem im Osten, wo die Löhne meist niedriger sind, profitieren die Beschäftigten von der Anhebung. Der Mindestlohn kann aber immer nur die unterste Haltelinie sein. Gute Löhne gibt es nur mit Tarifvertrag.“ (www.facebook.com/DGB.Gewerkschaftsbund/photos/a.156452817709463/5694556527232370)

Auch die SPD betont: „Gemeinsam mit den Gewerkschaften stehen wir an der Seite der Beschäftigten. Der Mindestlohn ist eine untere Haltelinie. Löhne, von denen man kein selbstbestimmtes Leben führen kann, darf es in unserem Land nicht geben. Mit dem neuen Mindestlohn gibt es jetzt eine Gehaltserhöhung für über sechs Millionen Beschäftigte und ihre Familien. Für uns ist klar: Eine anständige Bezahlung ist eine Frage des Respekts. Der höhere Mindestlohn ist ein starkes Signal, auch für höhere Tariflöhne. Und er bewirkt eine Stärkung der Kaufkraft in Zeiten hoher Preise.“

Natürlich ist es ein sozialer Fortschritt, wenn in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, niemand mehr für 4,50 Euro in der Stunde arbeiten muss. An der Prekarisierung der Arbeit hat aber vor allem die SPD mit den Hartz-Gesetzen einen großen Anteil. Das Damokles-Schwert der Sanktionen beim Hartz-Bezug trägt maßgeblich dazu bei, dass viele Menschen auch zu menschenunwürdigen Bedingungen und Bezahlung arbeiten. Insofern stellen die 12,- Euro Stundenlohn eine Untergrenze dar, unter die auch Tariflöhne nicht fallen können.

Für eine existenzsichernde Rente und ein Leben in Würde und Respekt braucht es aber einen weitaus höheren Stundenlohn. Gleiches gilt bei den steigenden Preisen auch für eine Stärkung der Kaufkraft. Viele können jetzt schon nicht von ihrem Einkommen leben, das betrifft vor allem Frauen in Teilzeit.

Das Problem der Euphorie und des sich Selbstfeierns von DGB und SPD stellt aber nicht allein die Unfähigkeit zur selbstkritischen Reflexion des eigenen Anteils an den arbeitsmarktpolitischen Fehlentwicklungen dar. Vielmehr liegt das Problem in einer Tatsache, die weder die DGB-Spitze noch Spitzenfunktionär*innen der Einzelgewerkschaften selbstkritisch ansprechen bzw. darstellen, nämlich der Frage der tarifpolitischen Stärke und Durchsetzungskraft.

Während der DGB im Jahr 1991 mehr als 11,8 Millionen Mitglieder zählte, waren es 2021 nur noch 5,7 Millionen – Tendenz fallend. Einst hatten der DGB und die Einzelgewerkschaften den Anspruch, per Tarifvertrag Löhne, Gehälter und die Arbeitsbedingungen der lohnabhängig Beschäftigten für ganze Branchen zu erkämpfen und zu regeln. Von diesem Ziel und Anspruch hat sich der DGB aber schon verabschiedet. Nun heißt es auf der Homepage von DGB: „Als Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) organisieren wir rund sechs Millionen Mitglieder aus acht Gewerkschaften. Wir sind die Expert*innen zum Thema Arbeit und stehen hinter den Beschäftigten in allen Berufsgruppen. Mit Mut, Kraft und Optimismus setzen wir uns für gerechte, solidarische Verhältnisse in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft ein. Wir sind die Stimme der Gewerkschaften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der DGB ist parteipolitisch unabhängig, aber nicht politisch neutral. Wir machen Druck im Interesse der Arbeitnehmer*innen auf Politik und Unternehmen. Unser Ziel ist, dass Arbeit und Einkommen gerecht verteilt werden und dass jede*r die gleichen Chancen erhält.“ (vgl. www.dgb.de/uber-uns )

Was heißt nach einem basisdemokratischen Verständnis eigentlich „Wir stehen hinter den Beschäftigten“? Die Gewerkschaften sind doch nichts anderes als organisierte Beschäftigte, so propagieren wir das doch immer und, wenn wir die gewerkschaftliche Basis ernst nehmen, ist dies auch folgerichtig. Und wenn wir politisch neutral sind, wieso haben wir als DGB-Gewerkschaften die „Agenda 2010-Politik“ der SPD/Grünen-Koalition Anfang der 2000er Jahren nicht energisch bekämpft?

Wo bleibt eine richtige und kritische Analyse, dass wir massiv das Vertrauen der Beschäftigten verlieren? Warum sind wir nicht mehr in der Lage, die wesentlichen Arbeitsbedingungen, allen voran Löhne & Gehälter und Arbeitszeit, per Branchentarifverträgen abzusichern? Wo bleibt der politische Druck des DGB auf der Straße gegen die aktuelle Regierung, damit unsere Branchentarifverträge via Allgemeinverbindlichkeitserklärung für alle lohnabhängig Beschäftigten gelten?

Ohne Selbstkritik und eine kritische Analyse der drohenden und bereits zunehmenden Bedeutungslosigkeit des DGB kann man sich sicherlich weiterhin via Sharepics auf den Social-Media-Kanälen selbst feiern, aber so können wir die 45,4 Millionen Beschäftigten in Deutschland nicht für uns gewinnen. Dafür bedarf es einer klaren politischen Haltung zu Gunsten der Beschäftigten und kein Anbiedern an die Politik – auch nicht an die Sozialdemokratie.

Orhan Akman (Kandidat für den ver.di-Bundesvorstand)