Digitalisierungstarifvertrag bei H&M und das politische Mandat der Gewerkschaften. EIn Beitrag von Cosimo-Damiano Quinto und Orhan Akman in der Zeitschrift Sozialismus Nr. 12/2022
Nach sechs Monaten und 14 Verhandlungsrunden haben die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und die Modekette Hennes & Mauritz (H&M) im Oktober 2022 für 14.300 Beschäftigte in Deutschland einen Digitalisierungstarifvertrag vereinbart.
»Digitalisierung in deiner Hand« steht auf den ver.di-Buttons, die Beschäftigte während des Tarifkonflikts getragen haben. Eine klare politische Forderung, die Nutzung digitaler Technik nicht den Kapitalinteressen zu überlassen! Direkt über dem Slogan erhebt sich eine nach oben gestreckte Faust, die Leiterbahnen umfasst, wie sie zum Beispiel auf RFID-Chips zu finden sind. Mit dem Einsatz solcher Chips begann die Digitalisierung des Modehandels …
Als aktive Gewerkschafter*innen betrachten wir die Tarifpolitik und das politische Mandat der Gewerkschaften als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dass sich die Lohnabhängigen zusammenschließen, ist nicht nur ein gewerkschaftliches, sondern auch ein politisches Ziel, gerade angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen. Die solidarische Einheit der lohnabhängig Beschäftigten ist der Kern gewerkschaftlichen Handelns und zugleich politische Notwendigkeit, vor allem jetzt bei einer Inflationsrate von über zehn Prozent und zeitgleich stagnierenden Löhnen. Die Forderung nach fairer, tariflich-gebundener Bezahlung leuchtet ein.
Entstehung der Tarifforderungen
Die Voraussetzung für das Aufstellen neuer Tarifforderungen bei H&M bestand darin, dass sich die Beschäftigten des Modehandels über Betriebs-, Unternehmens- und Ländergrenzen hinweg zu ihren Erfahrungen mit der Digitalisierung austauschen konnten. Am Anfang stand 2016 der gewerkschaftliche Arbeitskreis Junge Mode. Mitglieder sind die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden (GBR) eines neuen vertikalen Textileinzelhandels, der dadurch gekennzeichnet ist, die meist in Billiglohnländern produzierte Mode in selbst geführten Läden zu vertreiben. Geleitet wird der Arbeitskreis vom ver.di-Unternehmensbetreuer für Zara, Esprit, H&M und Primark.
In diesem Arbeitskreis teilen die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von Zara und Esprit ab 2016 ihre ersten Erfahrungen mit den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden von H&M – beide Unternehmen sind damals Vorreiter der Digitalisierung. Durch sie konnten die Betriebsräte von H&M gleichsam einen Blick in die Zukunft »ihres« Unternehmens werfen. Dies betrifft zum einen die Digitalisierung von Geschäftsmodellen, das heißt, die Förderung des Onlinehandels als Vertriebsweg und dessen Verknüpfung mit einem reduzierten Filialnetz als Omnichannel-Strategie.
Zum anderen erfuhren die Betriebsräte bei H&M, wie Arbeitsabläufe digitalisiert werden: Durch die Nutzung der RFIDTechnologie wird jedes Kleidungsstück jederzeit identifizier- und lokalisierbar, was die Einführung von Selbstbedienungskassen und ein weiteres »digitales Outsourcing« von Tätigkeiten mittels IT-Produkten, IT-Services und IT-Anwendungen erlaubt, zum Beispiel bei der Warenpräsentation und der Beratung.
Teil des Arbeitskreises Junge Mode ist auch das internationale Gewerkschaftsnetzwerk TIE/ExChains. Mit dessen Unterstützung findet im Rahmen des Projekts »ver.di verbindet« ein weiterer Erfahrungsaustausch mit Beschäftigten von H&M und Zara aus Italien und Spanien statt. Dieser internationale Austausch auf einer Betriebsräteversammlung 2018 verdeutlicht den anwesenden Betriebsräten von H&M, wie sehr sich mit dem Einsatz neuer Technologien die Tätigkeiten und Belastungen für die übrig bleibende Belegschaft ändern.
All diese Erfahrungen aus anderen Unternehmen und Ländern werden mit den Beschäftigten vor Ort ausgetauscht und erweitert. Bis 2020 wurden im Rahmen des Projekts »ver.di verbindet« auf über 50 Betriebsversammlungen mit den Beschäftigten von H&M und Zara Erfahrungen mit der Digitalisierung diskutiert und Forderungen zur Gestaltung von Technik formuliert. Die später aufgestellten Tarifforderungen sind nicht am grünen Tisch entstanden, sondern das Ergebnis dieser Diskussionen.
Die Rolle des GBR und das Zusammenwirken mit ver.di
Parallel dazu fand eine enge Zusammenarbeit von ver.di mit dem GBR von H&M zu Digitalisierungsfragen statt. So haben der GBR und der Wirtschaftsausschuss von H&M in einem von ver.di 2018 organisierten Seminar und 2019 in zwei weiteren Seminarklausuren unter anderem ein eigenes Konzept für die Zukunft der Filialen und der Beschäftigten erarbeitet. Es umfasst Vorschläge, wie neue Technologien eingesetzt werden können: Ein digitaler Spiegel kann beispielsweise eine Beratung durch das Personal ersetzen oder aber ein Hilfsmittel des Personals für eine qualifiziertere Beratung sein. Kundenberatung durch gut ausgebildete Beschäftigte und Nutzung der Technik als Assistenz sind Hauptbestandteile dieses Zukunftskonzepts.
Im Zusammenwirken mit ver.di hat der GBR zudem ein Positionspapier entwickelt, das die Übernahme sozialer Verantwortung durch H&M einfordert und als Grundlage für Verhandlungen bei Einführung technischer Einrichtungen dienen soll. Dieses Positionspapier ist von 2.000 Beschäftigten unterschrieben worden.
Von all dem hat das H&M-Management lange nichts wissen wollen. Stattdessen wurde der GBR aufgefordert, einen »Digitalpakt 2025« zu unterschreiben, um durch die Bildung von mehreren Verhandlungsgruppen und den Abschluss einer Rahmen-IT-Gesamtbetriebsvereinbarung die Digitalisierung des Unternehmens zu beschleunigen. Eine Beschäftigungssicherung war darin ebenso wenig vorgesehen wie Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes oder die Einbindung der Beschäftigten in die Entwicklung und Evaluation eines Zukunftskonzeptes. Folglich lehnte der GBR den »Digitalpakt 2025« im Juni 2020 ab und forderte die Geschäftsführung von H&M auf, mit ver.di über einen Digitalisierungstarifvertrag zu verhandeln, der die oben genannten Punkte beinhaltet. Die Reaktion folgte prompt: Die Unternehmensseite teilte noch am selben Tag mit, den Gesamtbetriebsrat von 40 auf acht Personen reduzieren zu wollen. Damit sollte eine Schwächung des Gremiums erreicht werden.
Aufforderungen zu Tarifverhandlungen
Im Juli 2020 trat die ver.di-Bundestarifkommission von H&M (BTK H&M) zusammen und forderte das Unternehmen zu Verhandlungen über den Abschluss eines Digitalisierungstarifvertrags auf. H&M reagierte darauf erst einmal nicht. Die BTK H&M startete deshalb eine öffentlichkeitswirksame Druckkampagne, die von der Frage ausging, was die Digitalisierung der Arbeitswelt für Frauen bedeutet. Die Kampagne gewann an Aktualität, als das Unternehmen im November 2020 ankündigte, durch das Angebot von Aufhebungsverträgen – als »Freiwilligenprogramm« bezeichnet – 800 Arbeitsplätze abzubauen. Zur Begründung hieß es, die Einzelhandelsbranche befände sich aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung und des veränderten Kundenverhaltens in einem tiefgreifenden Wandel. Betroffen vom Personalabbau waren insbesondere Frauen mit Kindern sowie schwerbehinderte Beschäftigte, die auf sozial- und gesundheitsverträgliche Arbeitszeiten angewiesen sind – sie passten nicht mehr zu der von H&M geplanten Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Durch dieses Vorgehen traten vor allem die möglichen Auswirkungen der Digitalisierung auf Arbeitszeiten zutage.
Nach ersten Streiks in 2021 versuchte auch ein inzwischen neues Management den GBR zu Verhandlungen über einen »Digitalpakt« zu bewegen und vertrat dabei die Auffassung, dass der Digitalisierungstarifvertrag auf Branchenebene zwischen ver.di und dem Handelsverband HDE zu verhandeln sei. Auch dieser Versuch scheiterte an der geschlossenen Haltung von GBR und ver.di. Erst danach erklärte sich das Management im März 2022 bereit, in Tarifverhandlungen einzutreten.
Der Digitalisierungstarifvertrag: Novum in der Handelsbranche
Die Vorgeschichte des jetzt abgeschlossenen Digitalisierungstarifvertrags zu kennen ist hilfreich, um ihn zu verstehen und richtig einzuordnen: Wenn es möglich ist, bei der geplanten Nutzung von Technik ihre möglichen Auswirkungen zu prognostizieren, liegt es tatsächlich in der Hand der Beschäftigten, die Digitalisierung vorausschauend mitzugestalten. Sehr wichtig waren und sind dabei Erfahrungen, die bereits bei Konkurrenzunternehmen oder in anderen Ländern gesammelt wurden. Von den ersten Diskussionen über die Analyse und Schlussfolgerungen bis hin zur Findung und Durchsetzung der Forderungen ist dieses Tarifwerk das Werk der organisierten Beschäftigten bei H&M. Die BTK hat diese Beteiligung der Beschäftigten als Grundprinzip des Digitalisierungstarifvertrages in drei Modulen durchgesetzt.
Modul 1 – Beteiligung der Beschäftigten am Zukunftskonzept
Eine Beteiligung der Beschäftigten erfordert zusätzliche Vertretungsstrukturen. Durch den Tarifvertrag werden zwei neue Gremien gegründet, der »Digi-Beirat« auf Ebene der Tarifvertragsparteien und der »Digi-Ausschuss« auf Ebene der Betriebsparteien.
Der Digi-Beirat ist paritätisch besetzt aus Mitgliedern der BTK H&M und der Geschäftsführung, wobei bei den turnusgemäßen Halbjahressitzungen immer ein Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes (bzw. die Bundesfachgruppenleitung für den Einzelhandel) und ein Mitglied der Geschäftsleitung von H&M teilnehmen. Es handelt sich um ein »strategisches Beratungsgremium«. H&M stellt diesem Gremium zwei Mal im Jahr die strategischen Überlegungen zum Zukunftskonzept vor, sodass durch Beratung im Digi-Beirat darauf Einfluss genommen werden kann. Ein Zukunftskonzept beinhaltet die ersten strategischen Überlegungen zur weiteren Digitalisierung der Stores, inklusive damit verbundener Veränderungsprozesse, die Arbeitsweisen und Arbeitsorganisation modifizieren können. In den Sitzungen können die Vertreter*innen der Bundestarifkommission nicht nur eigene Vorschläge, sondern auch Vorschläge der Beschäftigten zur Gestaltung des Zukunftskonzepts einbringen – zu diesen Vorschlägen können selbstverständlich auch solche des GBR zählen.
Der Digi-Ausschuss besteht ebenfalls paritätisch aus Mitgliedern des GBR sowie des Unternehmens und ist ebenfalls paritätisch besetzt. Die betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte des GBR werden um die Aufgaben dieses Digi-Ausschusses erweitert.
Erweiterung bezieht sich zum einen auf den Umfang der mitzugestaltenden Technik: Der Tarifvertrag spricht von IT-Systemen und meint damit alle IT-Produkte, IT-Services und IT-Anwendungen unabhängig davon, ob sie eine technische Einrichtung im Sinne der Betriebsverfassung sind. Darunter fallen beispielsweise digitale Spiegel, auch wenn sie keine personenbezogenen Daten verarbeiten. Erweitert wird zum anderen auch der Zeitpunkt der Beteiligung: Anstatt sich erst im »laufenden Betrieb« mit den Auswirkungen von Technik auf Tätigkeiten und Belastungen zu beschäftigen, soll die Technik bereits vor deren Einführung oder Änderung bewertet und gestaltet werden. Darüber hinaus wird die Technik nicht mehr isoliert betrachtet (auf Datenschutz und mögliche Verhaltens- und Leistungskontrolle beschränkt), sondern als Teil eines mit ihr in Zusammenhang stehenden »Arbeitssystems«.
Es geht also bei jedem (geänderten) IT-System insbesondere um mögliche Auswirkungen auf folgende festgelegte »Merkmalsbereiche«:
- die Tätigkeit der Beschäftigten,
- die Arbeitsintensität und Leistungsdefinitionen,
- die Belastungen und/oder den Gesundheitsschutz,
- die Arbeitszeit und den Arbeitsort,
- die Kontrolle und die Abhängigkeit (Entscheidungsspielräume der Beschäftigten) und
- die Arbeitsumgebung und die Ergonomie (einschl. Softwareergonomie).
Darüber hinaus erfordert Beteiligung Feedback-Mechanismen, damit die Beschäftigten ihre Erfahrungen einfließen lassen können. Es hat mehrere Verhandlungsrunden gebraucht, um diese zentrale Forderung der BTK H&M durchzusetzen.
Wird ein neues oder geändertes ITSystem vor dessen Einführung in der Praxis getestet, so muss zukünftig auch ein Feedback zur menschengerechten Gestaltung von (geänderten) IT-Systemen und dessen jeweiligen Auswirkungen auf die Arbeitssysteme eingeholt werden. Finden Tests in zwei Filialen
statt, so muss immer mindestens eine Filiale vertreten sein, bei der ein Mitglied des Gesamtbetriebsrates beschäftigt ist. Bei Tests in vier oder mehr Filialen muss mindestens in einem Viertel der Filialen jeweils ein Mitglied des Gesamtbetriebsrats und in einem weiteren Viertel jeweils ein (Ersatz-)Mitglied der Bundestarifkommission beschäftigt sein. Das erlaubt es den Interessenvertretungen, ein regelmäßiges Feedback bei den Beschäftigten einzuholen.
Die von H&M ab Januar 2023 geplante Einführung digitalisierter Arbeitsweisen mit dem Titel »Digitalisierungsschub zum Omni Store Operating Model« wird der Digi-Ausschuss in vier Testfilialen, die im Tarifvertrag festgelegt sind, durch Workshops begleiten. Durch diese Workshops werden die Beschäftigten besonders beteiligt, die menschengerechte Gestaltung der neuen Arbeitsweisen zu beurteilen und Anforderungen an die Weiterentwicklung zu stellen. Das Workshop-Konzept wird von zwei von den Tarifvertragsparteien benannten Sachverständigen entwickelt und 2023 gemeinsam durchgeführt. Aus den Workshops werden dem Digi-Ausschuss Ergebnisberichte vorgestellt, anhand derer er die Einführung der digitalen Arbeitsweisen beurteilt und Gestaltungsvorschläge für deren Weiterentwicklung ableitet.
Die Tests und Workshops ermöglichen es der BTK H&M und dem Gesamtbetriebsrat, im ständigen Austausch mit den Beschäftigten zu bleiben und Kenntnis über deren praktische Erfahrungen zu erhalten. So entwickelt sich ein Denken, Probleme nicht anstelle der Beschäftigten, sondern gemeinsam mit ihnen zu lösen: Denn nur sie können letzten Endes beurteilen, ob eine menschengerechte Gestaltung der
Arbeitsplätze gelungen ist.
Modul 2 – Beteiligung der Beschäftigten mit dem Ziel guter, gesundheitsförderlicher Arbeit
Im Tarifvertrag festgelegt ist gute, gesundheitsförderliche Arbeit. Sie wird definiert als »die Gewährleistung eines Arbeitsplatzes, an dem die Gesundheit gefördert und Gesundheitsrisiken durch Arbeitsbelastungen reduziert werden sowie das körperliche, geistige, seelische und soziale Wohlbefinden gewährleistet und gefördert wird«.
Dazu stellt der Tarifvertrag eine »Bewertungshilfe« zur Verfügung, mit deren Hilfe (geänderte) IT-Systeme und die damit im Zusammenhang stehenden Arbeitssysteme nach einheitlichen Kriterien bewertet werden können. So wird beispielsweise der Merkmalsbereich »Mögliche Auswirkungen auf Belastungen und/oder Gesundheitsschutz« in drei Fragen übersetzt:
- Führt das IT-System zu einer Steigerung oder Senkung des Arbeitstempos der Beschäftigten
- Erleichtert oder hemmt das IT-System die Möglichkeit, kurzfristig den Arbeitsplatz zu verlassen
- Werden durch das IT-System Leistungsvorgaben übermittelt?
Wenn im Prozess dieser Bewertung eine der beiden Betriebsparteien einen Bedarf zur Förderung menschengerechter Arbeitsgestaltung erkennt, findet auf deren Antrag ein »Spezifizierungsdialog« zwischen dem Digi-Ausschuss und H&M statt. Hierzu erarbeitet der Digi-Ausschuss konkrete Anforderungen zur Gestaltung des (geänderten) IT-Systems und dessen Auswirkungen auf das Arbeitssystem, auch mit Unterstützung von Sachverständigen. Besteht im Digi-Ausschuss kein Einvernehmen über die Gestaltung von IT-Systemen, so wird der Digi-Beirat hinzugezogen, um eine abschließende Klärung herbeizuführen.
Die im Digi-Ausschuss geeinten Anforderungen aus der Bewertungshilfe werden dann H&M für einen Spezifizierungsdialog zur Verfügung gestellt. Beziehen sich die im Digi-Ausschuss erarbeiteten Anforderungen auf die Technik, so muss H&M mit den Technikanbietern erörtern, ob sich diese Anforderungen umsetzen lassen. Hat sich der Digi-Ausschuss auf organisatorische oder die Arbeitsumgebung betreffende Anforderungen geeinigt, muss H&M diese prüfen und den Stand einer möglichen Umsetzung ebenfalls dem Digi-Ausschuss mitteilen – und dies grundsätzlich alles in der Planungsphase, also vor Einführung von (geänderten) IT-Systemen.
Der GBR erhält sowohl die vom Digi-Ausschuss ausgefüllte Bewertungshilfe als auch die Ergebnisse des Spezifizierungsdialogs. Somit kann er die »im laufenden Betrieb« erst ansetzenden Informations-, Beratungs- und Mitbestimmungsrechte anders nutzen: Anstatt sich wie bislang mit »Mosaiksteinchen« zu beschäftigen, wenn eine technische Einrichtung eingeführt werden soll, erhält der GBR zukünftig das »große Bild der Veränderungen«.
Der Tarifvertrag verpflichtet H&M dazu, diese Veränderungen offenzulegen, sie von den Beschäftigten ständig bewerten zu lassen und sich mit ihren konkreten Anforderungen zur Gestaltung von (geänderten) IT-Systemen und deren Auswirkungen auf Arbeitssysteme auseinanderzusetzen. Auf diese Weise wird die Digitalisierung von H&M zu einem ständigen Aushandlungsprozess. Daran muss sich H&M nun messen lassen.
Modul 3 – Beteiligung der Beschäftigten mit dem Ziel nachhaltiger Beschäftigungssicherung
Bereits am Anfang des Tarifvertrages formulieren die Tarifvertragsparteien folgende Leitgedanken und Zielsetzungen zur Zukunft des stationären Einzelhandels und zugleich zur Digitalisierung: »Die gemeinsame menschengerechte Gestaltung der Digitalisierung ist erforderlich, um das Unternehmen
zum Vorbild und Vorreiter zu machen, um gute Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, den benötigten Fortschritt im Rahmen der Digitalisierung zu erreichen und das Unternehmen auf diese Weise langfristig zu sichern.« Weiter heißt es: »Technik soll dabei dienen und nutzen, Arbeitsplätze aber nicht ersetzen.« Diesen »Geist« des Tarifvertrages mit Leben zu füllen, wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein und sicherlich bei der Umsetzung des Tarifvertrages zu immer neuen Aushandlungsprozessen führen.
Im Konkreten beinhaltet dieses Modul mehrere Stellschrauben, die die Beschäftigten schützen und absichern sollen. Bei der Standortsicherung geht es darum, die Digitalisierung als Chance zu begreifen, um den stationären Handel im Rahmen der Omni-Channelstrategie (Verknüpfung des stationären Handels mit dem Onlinegeschäft) durch qualifizierte Kolleg*innen und eine gute Beratung zu erhalten und zu stärken. In den turnusmäßigen halbjährlichen Sitzungen des Digi-Beirats werden hierzu die Ideen und Anregungen aller Beteiligten zur Strategie und Zukunftssicherung der Filialstandorte reflektiert und beraten. Dies umfasst auch etwaige Maßnahmen zu einem geplanten Outsourcing. Die Beschäftigten werden auch hier ständig beteiligt und sind selbst Teil dieses Aushandlungsprozesses.
Beschäftigungssicherung: Während einer Laufzeit des Tarifvertrages sind betriebsbedingte Beendigungskündigungen gegenüber Beschäftigten in den Filialen ausgeschlossen, die infolge der Einführung oder Veränderung von ITSystemen oder einer daraus resultierenden Änderung eines Arbeitssystems erfolgen. Bei diesem tariflichen Sonderkündigungsschutz sind drei Punkte hervorzuheben: Erstens ist der Begriff des IT-Systems nicht auf § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG beschränkt und zweitens muss eine Änderung nicht wesentlich sein. Drittens bietet der Bezug zum Arbeitssystem einen weitreichenden Schutz, weil ein Arbeitssystem gemäß der im Tarifvertrag festgehaltenen Definition der DIN EN ISO 6385 das Zusammenwirken eines einzelnen oder mehrerer Beschäftigter mit den Arbeitsmitteln innerhalb des Arbeitsraums und der Arbeitsumgebung unter den durch die Arbeitsaufgabe vorgegebenen Bedingungen umfasst.
Abgruppierungsschutz: Die Beschäftigten in den Filialen werden während der Laufzeit des Tarifvertrages infolge der Einführung oder Veränderung von IT-Systemen oder infolge einer damit in Zusammenhang stehenden Änderung eines Arbeitssystems nicht abgruppiert. Dies gilt auch für neu einzustellende Beschäftigte in den Filialen und führt nicht zu einer niedrigeren Eingruppierung bzw. schlechteren Bewertung der zu besetzenden Stelle.
Qualifizierungsinitiative: Die Kundenberatung durch die Beschäftigten ist ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg. Die Beschäftigten erhalten deshalb einen Anspruch auf Trainingsstunden zur Optimierung der Kundenberatung und -ansprache (einschließlich Stilberatung und Warenkunde). Die genaue inhaltliche Ausgestaltung sowie Art und Weise der Durchführung der Qualifizierung wird in einer Gesamtbetriebsvereinbarung vereinbart. Damit wird nicht nur die Möglichkeit wahrgenommen, den stationären Handel durch qualifiziertes Personal zu erhalten und zu stärken, sondern auch das Berufsbild der Verkäufer*innen vor einer Dequalifizierung in der neuen digitalen Welt geschützt. Für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Beschäftigte sind dabei ausdrücklich die Regelungen gemäß SGB IX zu beachten. Der Einsatz von Leiharbeit wird schließlich nicht dazu genutzt, festangestellte Kolleg*innen zu ersetzen. H&M wird daher Leiharbeit als Ausnahme und zweckbestimmt nur vorübergehend zur Schließung von Personallücken und zur Abdeckung von Bedarfsspitzen einsetzen. Für die Betriebsräte bedeutet dies, dass durch den Digitalisierungstarifvertrag ein neuer Grund geschaffen wurde, um die Zustimmung zum geplanten Einsatz von Leiharbeit verweigern zu können.
Tarifliche Halbjahreszahlungen
In den letzten Jahren hat ver.di im Handel Sanierungstarifverträge abgeschlossen, um damit möglichst viele Filialen und Arbeitsplätze zu retten und abzusichern. Als »Gegenleistung« für eine Standort- und Beschäftigungssicherung haben die Beschäftigten darin auf Teile der Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) zeitlich befristet verzichtet (ausgenommen hiervon ist der sog. Anerkennungstarifvertrag bei der Modekette Esprit von 2022, wo per Tarifvertrag für mehrere Jahre auf Entgeltbestandteile verzichtet wird, ohne eine Standort- und Beschäftigungssicherung zu vereinbaren).
Bei den Tarifverhandlungen 2019 und 2020 für Galeria Karstadt Kaufhof (GKK) samt Tochterunternehmen wurde neben dem Anerkennungstarifvertrag, der eine Standort- und Beschäftigungssicherung beinhaltet, auch ein Tarifwerk mit dem Titel »Tarifvertrag gute und gesunde Arbeit/Beteiligung Zukunftskonzept« unterzeichnet. Damit ist es erstmals im Handel gelungen, einen »Sanierungsbeitrag« der Beschäftigten als »Invest« in das Unternehmen zu tarifieren: In dem Sinne, dass eine Investition mit einer Einflussnahme auf das Zukunftskonzept einhergeht. Bis zum Tarifvertrag bei H&M sind somit im Handel Zukunftskonzepte in Zusammenhang mit Sanierungstarifvertragsverhandlungen unter dem Aspekt des wirtschaftlichen Überlebens von Unternehmen gesehen worden.
Bei H&M ist das anders. Laut Tarifvertrag beinhaltet das Zukunftskonzept bei H&M »die ersten strategischen Überlegungen zur weiteren Digitalisierung der Stores, inklusive Veränderungsprozesse im Kontext von Digitalisierung, die zu Änderungen von Arbeitsweisen und der Arbeitsorganisation führen können«. Hier geht es also darum, Änderungen von Arbeitsweisen und der Arbeitsorganisation »zur Wahrung gesundheitsförderlicher und sicherer Arbeitsbedingungen« mitzugestalten, wie es im sachlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages heißt.
Der Tarifvertrag sieht für alle Filialbeschäftigten bis zu sechs zusätzliche tarifliche halbjährliche Sonderzahlungen vor, erstmalig zum 28.2.2023 und letztmalig zum 31.8.2025 – gleichzeitig können sie mithilfe des Tarifvertrages Einfluss auf das Zukunftskonzept nehmen. Dabei sind diese Sonderzahlungen im zweiten und dritten Jahr von der Umsatzentwicklung »vergleichbarer Filialen« abhängig – mögliche Filialschließungen, die im jeweiligen Referenzzeitraum vor der Auszahlung stattfinden, werden deshalb nicht in die Betrachtung miteinbezogen. Sollte sich H&M im zweiten und dritten Jahr aufgrund der Umsatzentwicklung auf eine fehlende wirtschaftliche Finanzierbarkeit berufen, ist ver.di berechtigt, die Angaben zur wirtschaftlichen Finanzierbarkeit durch ein unabhängiges Gutachten überprüfen zu lassen. Bei einer Beschäftigung mit einer Wochenarbeitszeit von bis zu 20 Stunden gibt es zweimal 250 Euro brutto Sonderzahlung im Jahr, bei 21 bis 30 Wochenstunden zweimal 400 Euro brutto und ab 31 Wochenstunden zweimal 450 Euro im Jahr.
(Tarif)Politische Bewertung
Bei H&M wird erstmals überhaupt im Handel ein Digitalisierungstarifvertrag angewandt. Weil es an entsprechenden Erfahrungswerten in der Branche fehlt, haben sich ver.di und H&M ganz bewusst dafür entschieden, den Tarifvertrag zunächst für eine Dauer von 36 Monaten bis zum 30.09.2025 abzuschließen. Die Tarifvertragsparteien werden den Tarifvertrag im Frühjahr 2025 auf dessen Wirksamkeit überprüfen, und zwar insbesondere unter Berücksichtigung der Leitgedanken und Ziele des Tarifvertrags sowie dessen Zusammenwirken mit einer parallel zum Tarifvertrag abgeschlossenen Prozess-Gesamtbetriebsvereinbarung (GBV) zur Einführung und Änderung von IT-Systemen. Im Rahmen dieser Evaluierung soll beraten werden, ob und inwieweit die Regelungen zu den Modulen 1 bis 3 über den 30.09.2025 hinaus fortgeführt und gegebenenfalls weiterentwickelt werden.
Spätestens zum 01.04.2025 werden Verhandlungen zu einer möglichen Verlängerung des Digitalisierungstarifvertrages aufgenommen. Bis dahin muss unserer Auffassung nach ver.di die Umsetzung des Tarifvertrages als strategisches Projekt begreifen und entsprechende personelle und finanzielle Ressourcen zur Unterstützung des GBR und der BTK H&M zur Verfügung stellen, auch um die im Tarifvertrag festgelegten Leitgedanken und Zielsetzungen zu erreichen. Wörtlich heißt es dort: »Mit diesem Tarifvertrag verfolgen die Tarifvertragsparteien das Ziel, mittels betriebsverfassungsrechtlicher
Normen – und durch ›Verzahnung‹ mit einer ›Prozess-GBV zur Einführung und Änderung von IT-Systemen‹ – planbare und zweckbestimmte Beteiligungsprozesse bei der Gestaltung und Einführung von IT-Systemen zu schaffen. Sie verfolgen des Weiteren das Ziel der Implementierung eines gemeinsamen und fortlaufenden Prozesses zur Unterstützung der Betriebsparteien und zur Beteiligung der Beschäftigten am Zukunftskonzept.« Der Tarifvertrag stellt hiernach »verzahnt« mit der Prozess-GBV einen neuen Weg dar, »die Zusammenarbeit der Tarif- und Betriebsparteien im Rahmen der Digitalisierung im Interesse aller Beteiligten zu stärken«.
Die politische Bedeutung dieses Tarifvertrages liegt genau darin, dass er zusätzliche Formen der Interessenvertretung regelt und gleichzeitig die individuellen Rechte der Beschäftigten stärkt: Die Rechte des GBR werden durch den Tarifvertrag erweitert, die Gewerkschaft wird in die betriebliche Unternehmensmitbestimmung einbezogen und die individuellen Rechte der Beschäftigten werden durch einen jeweils besonderen Kündigungs- und Abgruppierungsschutz sowie einen zusätzlichen Anspruch auf tarifliche Qualifizierungsmaßnahmen ebenfalls gestärkt.
Es geht also auch bei der Digitalisierung um die Wahrnehmung und Durchsetzung von kollektiven und individuellen Interessen. Wie weit der Tarifvertrag an die Grenze der »unternehmerischen Freiheit« geht, zeigt eine Protokollnotiz, die diese Grenze festzieht: »Die Gestaltungsphase beschränkt die Arbeitgeberin nicht darin, bestimmte IT-Systeme bestimmter Anbieter nach freier Wahl anzuschaffen. Die unternehmerische Freiheit bleibt von der Gestaltungsphase insoweit unberührt.«
Damit sind wir beim politischen Mandat der Gewerkschaften: Damit das wirtschaftliche und somit das soziale Leben nicht der »unternehmerischen Freiheit« und somit Kapitalinteressen überlassen wird, bedarf es sowohl der Tarifpolitik als auch des politischen Mandats. Digitalisierte Geschäftsmodelle haben durch die Forcierung des Onlinehandels und die Schließung von Filialen erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung von Innenstädten. Die Erfahrung in anderen Unternehmen haben gezeigt, wie digitalisierte Arbeitsabläufe zu einer Zunahme von prekärer Beschäftigung geführt hat, also zu mehr Befristung, mehr Teilzeit, mehr Flexibilisierung der Arbeitszeiten und mehr Leiharbeit und Outsourcing. Die Digitalisierung ist ein Prekarisierungstreiber.
Mit den im Digitalisierungstarifvertrag formulierten Zielen ist es gelungen, dieser Situation zumindest tarifpolitisch zu begegnen: Standorte werden gesichert, der Verödung der Innenstädte wird so etwas entgegengesetzt, es werden laut Tarifvertrag sichere und gesundheitsförderliche Arbeitsplätze geschaffen. Dennoch bleibt das Problem bestehen, dass die derzeitigen Gesetze ausbeuterische Arbeits- und Sozialverhältnisse zulassen, die von der Digitalisierung verschärft werden. Hier muss das politische Mandat der Gewerkschaften selbstbewusst ansetzen. Wir halten es mit dem Politikwissenschaftler Frank Deppe: »Eine Gewerkschaft, die ihr Kerngeschäft nicht auf die Reihe bekommt, braucht nicht über Politik zu reden. Aber ohne ein eigenständiges politisches Mandat – als Gegenmacht – geht es auch nicht. Je schwächer die gesellschaftliche und politische Macht der Gewerkschaften ist, um so mehr sind sie auch in ihren Kernbereichen gezwungen, subaltern zu handeln.« (»Ohne ein eigenständiges politisches Mandat geht nichts«; Johannes Schulten im Gespräch mit Frank Deppe, in: junge Welt vom 3.11.2012.)
Der Tarifvertrag bei H&M gilt für derzeit 14.300 Beschäftigte – allein der Handel zählt weit über fünf Millionen Lohnabhängige. Es gibt tariflich und politisch also noch viel zu tun. Der Tarifvertrag bei H&M zeigt, dass auch vermeintlich Unmögliches erreicht werden kann.
Als ehemalige Verhandlungsführer sprechen wir in diesem Beitrag nicht im Namen von ver.di, sondern als Gewerkschaftsmitglieder. Wir danken unserer Kollegin Maren Ulbrich, die uns bei diesem Artikel mit ihren kritischen Anmerkungen und Beiträgen unterstützt hat.
Quelle: Sozialismus Nr. 12/2022 – Diesen Artikel als PDF herunterladen