22. November 2024

Kampf gegen Fremdbestimmung

junge Welt: Kampf gegen Fremdbestimmung
Dieser Artikel erschien auch am 26. November 2020 in schwedischer Sprache unter dem Titel „Kamp mot maktlösheten“ auf dagens arena

Jeffrey Preston Bezos ist Gründer und Chef des Handelsriesen Amazon und gilt als reichster Mann der Welt. Er gehört zu den Profiteuren der Coronakrise. Schon Mitte April 2020 war sein Vermögen Medienberichten zufolge um weitere 24 Milliarden auf 138,5 Milliarden US-Dollar gestiegen.¹ Grund dafür ist der erhöhte Bedarf nach Liefer- und Onlinediensten während der Ausgangsbeschränkungen, der Amazon eine Umsatzsteigerung um 26 Prozent beschert hat, wovon laut Handelsblatt drei Viertel auf die Computer-Cloud-Tochter Amazon Web Services (AWS) entfielen. Darüber läuft unter anderem der Streamingdienst Netflix, der im ersten Quartal 2020 aufgrund der Pandemie ein Rekordergebnis verzeichnen konnte, weil die Anzahl der Bezahlabos weltweit um 15,8 Millionen in die Höhe schoss.

1994 in den USA als Onlinebuchversand gegründet, ist Amazon heute ein riesiger Mischkonzern, der als Einzelhändler, Logistiker, Internetplattform, Anbieter von Musik- und Videostreaming, Filmproduktion und Zeitungsverlag nach eigenen Angaben weltweit rund 840.000 Menschen beschäftigt, davon mehr als 590.000 im Stammland USA und 115.000 in Europa. In Deutschland zählt Amazon zwischen 13.000 und 20.000 festangestellte Vollzeitbeschäftigte, hinzu kommen vor allem im Weihnachtsgeschäft Tausende befristet angestellte Arbeiterinnen und Arbeiter. Den Umsatz bezifferte der Konzern 2019 auf 280,5 Milliarden US-Dollar. Damit ist die Finanzkraft von Amazon vergleichbar mit dem Bruttoinlandsprodukt von Ländern wie Portugal oder Vietnam.

Zugleich gehört der Konzern zu den größten Umweltverschmutzern der Welt, sein gigantischer Energieverbrauch hat verheerende Auswirkungen auf Umwelt und Klima. Nach eigenen Angaben betrug der Kohlendioxidausstoß von Amazon im Jahr 2018 rund 44,4 Millionen Tonnen. Das entspreche etwa 85 Prozent der Emissionen ganzer Staaten wie der Schweiz oder von Dänemark, sagte Gregg Marland vom Research Institute for Environment, Energy and Economics der Appalachian State University im US-Bundesstaat North Carolina der Nachrichtenagentur AP

Amazon hat inzwischen offiziell das Ziel verkündet, bis zum Jahr 2040 CO2-neutral produzieren zu wollen und behauptet sogar, dass »der CO2-Ausstoß durch eine Umstellung auf die Cloud und AWS um 88 Prozent verringert werden kann«³. Für den Journalisten Brian Merchant ist das schlicht und einfach eine »Lüge«. Vielmehr sei Amazon unter dem Strich »einer der größten Verursacher der Klimakrise«, erklärte er im Dezember 2019 bei einem Symposium des Internationalen Gewerkschaftsbundes in Brüssel.⁴ Eliza Pan vom Zusammenschluss »Amazon Employees for Climate Justice« (AECJ) wies auf derselben Veranstaltung darauf hin, dass der Konzern seinen Schadstoffausstoß etwa durch den von Lastwagen im Umfeld der Distributionszentren verbrauchten Diesel in Regionen konzentriere, in denen vor allem People of Colour leben. Während der Konzern sich auf seinen Internetseiten solar- und windbetriebener Serverparks in den USA rühmt, »baut Amazon immer mehr Datenzentren in Indien und China, die in großem Umfang auf Energie angewiesen sind, die aus Kohlekraftwerken stammt«, so Pan.

Gefährdung der Beschäftigten

Eine weitere Schattenseite der angeblichen Erfolgsgeschichte von Amazon ist die Überlastung und Gesundheitsgefährdung der Beschäftigten, die sich unter anderem in hohen Krankenständen niederschlägt. Ende März beklagte Peter Fritz, der in Frankenthal bei Amazon arbeitet, auf der Homepage der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) den vom Konzern betriebenen »Pandemieschutz auf amerikanische Art«: »Da werden einerseits die Spinde aus dem Umkleidebereich weiträumig bis in die Kantine verteilt, um Schutzabstände einzuhalten – andererseits kommen rund 100 Leute für die Normalschicht zur gleichen Zeit an und stehen dann zur Übergabe bei Schichtwechsel dicht zusammen mit denen, die sie am Arbeitsplatz ablösen. Zur Arbeit kommen viele mit dem überfüllten Shuttle-Bus von der Straßenbahn zum Lager.«⁵

Medienwirksam präsentiert sich der Konzern als mustergültig bei den Präventionsmaßnahmen und findet dabei unter den kommerziellen Medien in Deutschland, die auch von den durch Amazon geschalteten Werbespots profitieren, eifrige Unterstützer. Beschäftigte berichten dagegen nach wie vor von Problemen – und die von der Unternehmensleitung ergriffenen Maßnahmen, um zum Beispiel Personalkonzentrationen zu vermeiden, gehen oft zu Lasten der Beschäftigten. So wurde Ende Mai aus Pforzheim berichtet, dass dort die Nachtschicht auf 32,5 Stunden in der Woche reduziert worden ist, damit es kein Zusammentreffen mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Frühdienst gibt. Die sich dabei ansammelnden Minusstunden sollen jedoch später nachgearbeitet werden.

Angesichts einer solchen Unternehmenspolitik ist es kaum verwunderlich, dass etwa im »Fulfillment Center« in Winsen/Luhe bei Hamburg bis Ende Mai mindestens 53 Infektionsfälle registriert wurden. Diese allein vom 16. März bis 29. April aufgetretenen Fälle wurden erst durch eine kleine Anfrage der Grünen-Fraktion im niedersächsischen Landtag offiziell bekannt. Wie die Tagesschau am 25. Mai berichtete, kritisierte Verdi die fehlende Transparenz und ein zu zögerliches Handeln der Behörden. Es sei »schwer nachzuvollziehen«, warum der Betrieb in »Coronahotspots« wie Winsen ungehindert habe fortgesetzt werden können. Das gilt auch für andere Standorte wie Bad Hersfeld, wo bis Ende Mai mindestens sechs Infektionsfälle verzeichnet wurden. Das örtliche Gesundheitsamt ordnete daraufhin das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen im Betrieb an. Schutzmaßnahmen wurden von der Geschäftsleitung jedoch nicht ergriffen. Denjenigen, die ein ärztliches Attest vorlegen konnten, dass sie keine Masken tragen können, wurde lediglich »angeboten«, unbezahlt zu Hause zu bleiben.

Solche Zustände belegen die Bedeutung des inzwischen im achten Jahr von Verdi zusammen mit den organisierten Beschäftigten bei Amazon in Deutschland geführten Arbeitskampfes für Tarifverträge sowie für gute Arbeitsbedingungen. Er gehört inzwischen zu den am längsten anhaltenden Auseinandersetzungen der deutschen Gewerkschaftsbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Zudem geht es um die Frage, wie die Gefahr bekämpft werden kann, die solche Konzerne für die Demokratie bedeuten, indem sie etwa das Zahlen von Steuern, Umweltschutzmaßnahmen, die Einhaltung von Tarifverträgen usw. verweigern oder sich davor drücken. Von Seiten der Regierungen haben die Gewerkschaften dabei kaum Unterstützung zu erwarten. Bereits am 1. September 2011 sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz sogar davon, »die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist«. Es fällt schwer, dabei nicht an die Marxsche Formulierung vom Staat als geschäftsführendem Ausschuss der Kapitalistenklasse zu denken.⁶

Der Arbeitskampf bei Amazon begann 2013, als Verdi den Handelskonzern erstmals zur Aufnahme von Tarifverhandlungen aufforderte, was das Management ablehnte. »Wir haben nicht vor, einen Tarifvertrag abzuschließen«, antwortete damals Armin Cossmann, Regionaldirektor Deutschland für den Logistikbereich. »Er stünde nicht im Einklang mit unserem Ansatz, Mitarbeiter am Erfolg von Amazon zu beteiligen.«⁷

Unter Verweis darauf, dass Tarifverträge wie dafür geschaffen seien, die Beschäftigten am Erfolg zu beteiligen, wies Verdi diese Argumentation als »abenteuerlich« zurück. Seither haben die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft nicht nachgelassen, mit regelmäßigen Streiks und anderen Aktionen Druck auf das Unternehmen auszuüben. Der Konzern erklärt dagegen offen, dass er mit Gewerkschaften keine verbindlichen Vereinbarungen treffen will: »Für uns sind die Betriebsräte in den Logistikzentren fest etablierte Partner. Sie repräsentieren die gesamte Belegschaft – im Gegensatz zu Gewerkschaften, die nur für eine Minderheit sprechen.«⁸ Noch deutlicher formulierte Cossmann im Juli 2019 gegenüber dem Internetportal Golem.de die gewerkschaftsfeindliche Haltung des Unternehmens: »Wir wollen keine externen Organisationen am Tisch sitzen haben. Verdi würde uns nicht helfen. Die Gewerkschaften sind noch nicht in den modernen Zeiten angekommen.«

Verdichtung der Arbeit

Diese »modernen Zeiten« sind alter Wein in neuen Schläuchen. Neu und genau zu analysieren ist allerdings, dass Amazon Vorreiter im Prozess der Industrialisierung der Dienstleistung ist. Dabei wird die Arbeit der Beschäftigten wie in der fordistischen Industrie in kleine Schritte zerteilt. Sie wird immer mehr verdichtet und ständig »optimiert«, das Tempo fortlaufend erhöht. Den Beschäftigten wird dabei die Kon­trolle über ihr eigenes Tun entzogen, sie werden zu einem reinen Anhängsel der Technologie degradiert, das sich den Vorgaben des Algorithmus zu unterwerfen hat. »Ich bin nicht mehr ich«, fasste das ein Kollege gegenüber Verdi zusammen. »Sobald ich bei Amazon bin, bin ich Amazon. Ich kann keine Entscheidungen selber treffen. Der Scanner sagt mir: Geh nach rechts oder links, nach unten, nach oben, jetzt nicht arbeiten, jetzt schneller arbeiten. Man ist von diesem scheiß Gerät abhängig.«

Ähnliches berichten auch andere Beschäftigte, nicht nur in deutschen Amazon-Niederlassungen. So veröffentlichte der britische Guardian Anfang 2018 die Tätigkeitsbeschreibung des damals 24jährigen Aaron Callaway: »Es ist ein ziemlich kalter Arbeitsplatz und abgesehen von zwei halbstündigen Essenspausen bin ich zehneinhalb Stunden auf den Beinen. Ich scanne die Teile, die die Trucks der Lieferanten bringen und plaziere sie in das richtige Fach für die Roboter, damit die sie an den richtigen Platz im Warenhaus bringen. Ich muss jedes Stück in 15 oder weniger Sekunden wegtun und rund 250 in einer Stunde schaffen, sonst werde ich von einem Manager ermahnt. Mich von meiner Station zu entfernen, um zum Beispiel einen Schluck Wasser zu trinken, kann große Auswirkungen auf meine Performance haben.«⁹

Bei Amazon wird lediglich besonders deutlich sichtbar, wie die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auch heute noch funktioniert. Es ist im Kern nach wie vor dasselbe kapitalistische System, das Karl Marx schon im 19. Jahrhundert beschrieben hat. So könnte man an die riesigen Amazon-Logistikzentren denken, wenn es heißt: »Die moderne Industrie hat die kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters in die große Fabrik des industriellen Kapitalisten verwandelt. Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt. Sie sind (…) täglich und stündlich geknechtet von der Maschine, von dem Aufseher und vor allem von den einzelnen fabrizierenden Bourgeois selbst.«¹⁰ Tatsächlich sucht Amazon in Deutschland per Stellenanzeigen gezielt nach ehemaligen Bundeswehroffizieren als Führungskräften.

Marx und Engels resümierten schon im »Manifest der kommunistischen Partei«: »Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für die Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird.«¹¹ Auch die Beschäftigten bei Amazon werden so immer mehr zu »Dienern« technologischer Prozesse und Algorithmen – der Mensch dient der Maschine. Dagegen muss die Forderung nach einer humanen Arbeitswelt auch bei Amazon gesetzt werden, denn Algorithmen, technologischer Fortschritt und Arbeitsprozesse könnten und sollten die Arbeit der Beschäftigten erleichtern, ihnen Freude an und Identifikation mit der Arbeit ermöglichen. Damit geht es bei der Auseinandersetzung zwischen Verdi und Amazon auch um den sozialen Charakter der Arbeit.

Das Problem heißt Entfremdung der Arbeit. Marx beschrieb diese Erscheinung des Kapitalismus 1844 in seinen »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« mit den Worten: »Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d. h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. (…) Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.«¹²

Ist das Zwangsarbeit?

Die Umstände, unter denen viele Menschen zur Annahme eines Arbeitsplatzes bei Amazon oder anderen Konzernen gezwungen werden, sind in der Tat nicht weit von der entsprechenden Begriffsdefinition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entfernt. In einem 1930 ausgehandelten und 1932 in Kraft getretenen Übereinkommen definiert die ILO jede Art von Arbeit oder Dienstleistung als »Zwangs- oder Pflichtarbeit«, die »von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat«.

Vielen Betroffenen bleibt tatsächlich kaum etwas anderes übrig, als ihre Arbeitskraft Amazon oder vergleichbaren Unternehmen zu verkaufen. So berichtet Callaway im Guardian, dass ihm Sanktionen des Jobcenters drohen, wenn er aus eigenem Antrieb die Anstellung bei Amazon aufgeben würde: »Ich habe darüber nachgedacht, zu kündigen, aber ich kann nicht aus eigenem Entschluss gehen. Wenn ich das täte, würde ich vom Jobcenter bestraft werden und meinen Anspruch auf Leistungen und Unterstützung für sechs Monate verlieren. Ich habe nicht viele andere Möglichkeiten als weiter dort zu arbeiten. Bis ich einen neuen Job finde, bin ich gezwungen, dort zu bleiben.« Die Lage in Deutschland ist nicht grundsätzlich anders, auch hierzulande drohen Erwerbslosen Leistungssperren, wenn sie das Ende der Anstellung »schuldhaft« herbeigeführt oder »ohne berechtigten Grund« selbst gekündigt haben. Das gilt auch, wenn von der Arbeitsagentur vermittelte »Eingliederungsmaßnahmen« verweigert oder abgebrochen werden.

Im Jahr 2011 berichteten Initiativen, dass Arbeitsagenturen Amazon ermöglicht hatten, Erwerbslose über Wochen zu beschäftigen, ohne sie zu bezahlen. In der Vorweihnachtszeit wurden demnach Erwerbslose an den Konzern vermittelt, der Aushilfskräfte für die Auslieferung der Waren suchte. Die Vermittelten sollten allerdings zunächst ein nicht vergütetes »Praktikum« absolvieren, das Jobcenter zahlte in dieser Zeit die Leistungen nach »Hartz IV« sowie Fahrtkostenzuschüsse. Wer das »Praktikum« ablehnte, musste mit Sanktionen in Form von Leistungskürzungen rechnen.

Trotzdem ist der Begriff »Zwangsarbeit« im engen juristischen Sinne kaum auf die Gegebenheiten bei Amazon anzuwenden. Vielmehr entspricht auch dieses Geschäftsmodell der Natur des kapitalistischen Privateigentums, »welches auf Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit beruht«, wie es Marx im »Kapital« feststellte. Es ist der Kern des Kapitalismus, dass die Menschen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Dabei werden via Sprache die Klassengegensätze manipuliert und vernebelt, denn derjenige, der seine Arbeitskraft verkauft, wird »Arbeitnehmer« genannt, während der Abnehmer als »Arbeitgeber« bezeichnet wird. In nahezu magischer Weise werden die Konzernherren so zu Zauberern, die reicher werden, indem sie etwas »geben«.

Bei Amazon müssen die Beschäftigten zudem noch ihre Arbeitskraft in einer bis ins Detail fremdbestimmten Weise verkaufen. Diese Entfremdung zeige sich, so Marx, »nicht nur im Resultat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit selbst«¹³. Der Mensch ist nicht nur dem Produkt, dem Ergebnis seiner Arbeit, entfremdet, sondern auch dem Arbeitsprozess selbst. In der Folge entfremdet sich der Mensch auch vom Menschen, denn dadurch, dass er kleinteilig, stereotyp und ohne freie Kooperation mit seinen Kolleginnen und Kollegen arbeitet, werden sie ihm zunehmend gleichgültig. Im Kampf um den Arbeitsplatz sind sie seine Konkurrenten.

Auch unter diesem Aspekt ist der Arbeitskampf bei Amazon von zentraler Bedeutung, nicht nur unmittelbar für die Beschäftigten, sondern auch für die Gesellschaft. Denn »sicher ist es der Wille des Kapitalisten, zu nehmen, was zu nehmen ist«, wie es Marx in »Lohn, Preis und Profit« formuliert. »Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken.«¹⁴ Die Ware Arbeitskraft hat einen Preis, der sich als Lohn bzw. Gehalt bei den Beschäftigten niederschlägt und um dessen Höhe oftmals hart gerungen und gestreikt wird. Doch während für die Kapitalisten die Gewinnmaximierung zählt, kämpfen Gewerkschaften als Solidargemeinschaft nicht nur um existenzsichernde Einkommen, sondern um die Würde des Menschen auch am Arbeitsplatz.

Kapitalistischer Normalzustand

Amazon ist dabei lediglich ein Beispiel für die Entwicklung kapitalistischer Handels- und Logistikkonzerne unter den heutigen Produktionsbedingungen. Die ständige Ausweitung des Angebots und der Tätigkeitsbereiche sorgt dafür, dass der Einfluss des Konzerns immer weiter expandiert – und dabei klassische Warenhausketten, die überwiegend stationär am Markt vertreten sind, verdrängt. Diese bewegen sich im Allgemeinen noch immer ausschließlich in ihrem Kernsegment und versuchen, dort durch Zukäufe und Fusionen eine hegemoniale Position einzunehmen. Wenn diese Kernbranche aber aufgrund von Krisen oder neuer Entwicklungen geschwächt wird oder zusammenbricht, geraten die Unternehmen ins Straucheln. Als Reaktion wird dann versucht, durch Kürzungen und Betriebsschließungen Verluste zu minimieren. Damit aber büßt das Unternehmen weiter an Ansehen ein. Es wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der letztlich bis zum Verschwinden der Ketten führen kann.

»Je ein Kapitalist schlägt viele tot«, heißt es dazu bei Marx. »Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich (…) die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung …«¹⁵

Amazons Geschäftsmodell basiert auf einer ständigen Expansion. Das breite Warenangebot zieht demnach Kundinnen und Kunden an, die dort ihren Einkauf tätigen. Ihre positiven Erfahrungen durch niedrige Preise, einfache Kaufabwicklung usw. sorgen dafür, dass sie zurückkehren und das Unternehmen auch empfehlen. Zur weiteren Expansion öffnet sich der Konzern dann für Drittanbieter, die vom bereits generierten Kundenstamm profitieren – und durch ihre Angebote wiederum zu einer Ausweitung der Angebotspalette beitragen. Durch das Wachstum, so legt die Skizze nahe, wird die Kostenstruktur abgesenkt, in der Folge sinken die Preise der Waren. Was in diesem Konzept allerdings ausgeblendet bzw. unter »Lower Cost Structure« subsumiert wurde, ist der Preis der zur Realisierung dieses Prozesses ausgebeuteten menschlichen Arbeitskraft. Es ist in diesem Schema nicht vorgesehen, dass die Beschäftigten vom Wachstum profitieren, etwa durch Einkommenssteigerungen oder bessere Arbeitsbedingungen. Um es mit Marx zu formulieren: »Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.«¹⁶

Gegenwehr durch Klassenkampf

Daraus ergibt sich, dass die weltweit geführten Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Gruppen einerseits und Amazon andererseits, zu denen auch der Tarifkonflikt zwischen Verdi und Amazon in Deutschland gehört, nicht isoliert zu betrachten sind. Es handelt sich um nichts anderes als Klassenkampf. Im Arbeitskampf von Verdi geht es auch darum, inwieweit Beschäftigte zu Anhängseln von technischen Prozessen und Algorithmen degradiert werden. Es geht aber auch um das Erkämpfen von »Freiräumen« im weitesten Sinne am Arbeitsplatz: Den Freiraum, dass Beschäftigte dort soziale Kontakte haben und pflegen können, sich mit ihrer Arbeit und den Ergebnissen des Einsatzes ihrer Arbeitskraft identifizieren können, Kontrolle über ihre eigenen Tätigkeiten haben und bekommen, nicht von technischen Prozessen und Algorithmen bestimmt werden und am Ende der Arbeitsschicht nicht völlig erschöpft sind.

Im Arbeitskampf bei Amazon entscheidet sich mit, ob Megakonzerne die Ausbeutung der Beschäftigten durch maschinell getroffene Managemententscheidungen und ihre doppelte Enteignung als Standard durchsetzen können oder ob es der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung gelingt, diesem ungezügelten Kapitalismus im Sinne einer Rückaneignung der Arbeitskraft Schranken zu setzen – bis hin zur Expropriation der Expropiateure: »Dort handelte es sich um die Expropriation der Volksmasse durch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse.«¹⁷

Anmerkungen

1 Vgl. Manager-Magazin, 15.4.2020

2 Vgl. Joseph Pisani und Bani Sapra: ›Middle of the herd‹ no more: Amazon tackles climate change, 20.9.2019, apnews.com

3 https://aws.amazon.com/de/about-aws/sustainability/ und zur CO2-Bilanz https://nachhaltigkeit.aboutamazon.de/co2-bilanz

4 Symposium am 2.12.2019, https://www.uniglobalunion.org/

5 https://www.verdi.de/themen/arbeit/corona/

6 Marx/Engels Werke (MEW), Bd. 4, S. 464

7 Zitiert nach heise.de, 5.10.2015

8 Zitiert nach Business Insider, 15.1.2020

9 The Guardian, 20.1.2018

10 MEW 4, S. 469

11 MEW 4, S. 468f.

12 MEW 40, S. 514

13 MEW 40, S. 514

14 MEW 16, S. 105

15 MEW 23, S. 790f.

16 MEW 4, S. 468

17 MEW 23, S. 791

Quelle: Tageszeitung junge Welt