23. Dezember 2025

„Jedes Paradies hat seine Schlange“ — Eine Kurzgeschichte von Orhan Akman

Der Schlange war es mittlerweile zu viel, sie sehnte sich nach Ruhe und Ausgleich. Schließlich waren die letzten Jahre für die Schlange schwer, sie musste viel arbeiten. Menschen stechen, andere Tiere verschlingen, Gift spritzen, auf der Lauer warten und zugleich aufpassen, nicht selber zum Opfer zu fallen. Das alles hinterließ Spuren bei der Schlange. Außerdem war diese Umgebung nicht mehr für sie begeisternd. Diese feurige Hitze, böse Menschen und Tiere und andere Lebewesen, die jammerten, dass sie hier gelandet sind. Diese permanente Jauchzen konnte die Schlange sich nicht mehr anhören.

Die Zeit war reif für ein Neuanfang, meinte die Schlange, als sie nach ihrem letzten Biss eines Menschen merkte, dass sich alles irgendwie wiederholt. Sie war unzufrieden mit sich und dieser Welt aus Feuer, Flamme, Rauch, schlechter Stimmung und Dämmerung.

Die Schlange machte sich auf den Weg. Sie brauchte eine lange Zeit, um aus den Tiefen dieser Unterwelt und aus der Dämmerung herauszukommen. Als sie seit einer Ewigkeit wieder das Sonnenlicht sah, wurde ihr schwindelig. Die Schlange brauchte Tage, um sich an die Sonne und an das Licht zu gewöhnen. Sie ruhte sich derweil im Schatten eines Dattel-Baumes aus.

Nach einer langen Reise durch Täler, Berge und Wüsten kam sie an. Sie klopfte an der Tür. Ein überfreundlicher Mann öffnete das große Tor mit vergoldetem Rahmen.

„Ohhhhh, einen wunderschönen guten Tag, sehr geehrte Schlange. Was für eine Ehre für unsere soziale und ewige Welt. Bitte kommen Sie doch herein“, sagte der Mann zu der Schlange, die mehr als irritiert von dieser Begrüßung war. „Ich würde Ihnen gerne Ihren Hut und Ihren Koffer abnehmen, aber ich sehe, sie haben keine Last bei sich, sehr geehrte Schlange,“ ergänzte der Mann

„Jeder trägt seine Last anderswo, mein Gewissen ist meine Last“, erwiderte die Schlange, während ihr im Eingangsbereich ein frischer Cocktail aus den Früchten aller Herrenländer überreicht wurde. „Wollen die mich gleich vergiften“, dachte sich die Schlange und nahm mit der Spitze seiner Doppelzunge einen kleinen Schluck vom Cocktail.

Die Schlange ging durch diese neue Welt, wurde überall herzlich begrüßt und immer eingeladen. Alle Menschen schienen total sozial zu sein, jede und jeder kümmerte sich um die anderen. Es herrschte eine Atmosphäre von Menschlichkeit, von Humanismus und Nächstenliebe, wie man es aus Bilderbüchern kannte. Die Schlange musste sich keine Sorgen machen, es gab keine Feinde, alle waren hilfsbereit und zum Essen und Trinken gab es alles im Überfluss.

Am Straßenrand am Ende einer Ortschaft traf die Schlange eines Tages eine weise ältere Frau. Die Frau sah verbittert aus, hatte grimmige Blicke und unterschied sich von den anderen irgendwie. „Guten Tag, die Dame“ grüßte die Schlange die Frau und hoffte auf eine nette Unterhaltung. „Was willst du, zieh Leine!“ erwiderte die Frau.

"Jedes Paradies hat seine Schlange" antworte die Frau mit dem Mundwinkel. „Öffnen Sie ihre Augen und sie sehen die Schlange in den Menschen“. (Grafik KI-generiert)
„Jedes Paradies hat seine Schlange“ antworte die Frau mit dem Mundwinkel. „Öffnen Sie ihre Augen und sie sehen die Schlange in den Menschen“. (Grafik KI-generiert)

„Aber junge Frau, ist das nicht ein wunderschöner Tag voller Freude heute!“ versuchte die Schlange sich einzuschleimen. „Was geht mich deine Illusion an! Jetzt schleich dich hier“ erwiderte die Frau. Die Schlange war irritiert, konnte dieses Verhalten weder einordnen noch erklären. „Ja aber, wir kennen uns noch gar nicht. Ich bin erst seit geraumer Zeit in dieser wunderschönen Welt. Ich würde gerne mich mit Ihnen unterhalten“ versuchte die Schlage ein weiteres Mal sein Glück. „Haben Sie sonst nichts zu tun. Was wollen Sie von mir!“ antwortete die Frau.

„Wie Sie sehen, bin ich eine Schlange. Normalerweise mögen die Menschen keine Schlangen. In der Welt, wo ich herkomme, wurden Schlangen gehasst, totgetreten und gejagt. Gut, wir als Schlangen waren auch nicht immer nett. Aber hier ist es total anders. Das ist ja paradiesisch hier. Alle sind so gut!“.

„Jedes Paradies hat seine Schlange“ antworte die Frau mit dem Mundwinkel. „Öffnen Sie ihre Augen und sie sehen die Schlange in den Menschen“.

„Ja, ich bin die einzige Schlange, die ich bisher hier gesehen habe. Und alle mögen mich irgendwie.“ sagte die Schlange überschwänglich.

„Ja und ich bin die Päpstin“ sagte die Frau und setzte noch eins drauf „Haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Sie und die einzige Schlange hier. Sie haben wohl zu lange in der Dämmerung gelebt.“

„Was meinen Sie, ich kann Ihnen nicht folgen?“ fragte die Schlange zunehmend verunsichert die Frau.

„Sie denken wohl, sie sind im Paradies hier, nicht wahr!?“ fragte die Frau.

„Ja natürlich, es ist der beste Ort, den es gibt“.

„Willkommen in der Schlangengrube. Sie sollten lernen, den Unterschied zwischen Schein und Sein zu begreifen. Sie sind hier das harmloseste Wesen, welches sich hier seit Ewigkeiten aufhält.“

Die Frau stand auf ging ohne einen Blick zurückzuwerfen weiter und verschwand hinter einem Hügel.

Die Schlange wachte schwitzend auf, es war heiß wie in der Hölle. Ihr war schwindelig. Als sie die Augen zum letzten Mal aufbekam, drehten die Menschen sie am Spieß über einem Grillfeuer.

Als sie die Augen zum letzten Mal aufbekam, drehten die Menschen sie am Spieß über einem Grillfeuer. (Grafik KI-generiert)
Als sie die Augen zum letzten Mal aufbekam, drehten die Menschen sie am Spieß über einem Grillfeuer. (Grafik KI-generiert)