22. November 2024

Beschwerde des Antidiskriminierungsnetzwerks Berlin an den ver.di-Bundesvorstand

Beschwerdebrief des ADNB
Beschwerdebrief des ADNB

Ich dokumentiere nachstehend in Auszügen ein insgesamt neunseitiges Schreiben des Antidiskriminierungsnetzwerks (ADNB) des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg an den ver.di-Bundesvorsitzenden Frank Werneke:

Sehr geehrter Herr Werneke, sehr geehrte Damen und Herren,

das Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin ist ein Projekt des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg und betreibt eine „Beratungsstelle für Gleichbehandlung — gegen Diskriminierung“. Wir beraten und unterstützen Menschen, die aufgrund ihrer (zugeschriebenen) ethnischen Herkunft und/oder aufgrund der Religion diskriminiert werden bzw. diskriminiert worden sind und setzen uns für ihre soziale, rechtliche und politische Gleichbehandlung ein. Der TBB e.V. ist als Antidiskriminierungsverband handlungsbefugt im Sinne des § 23 Abs. 2, 3 AGG und gem. § 9 LADG verbandsklageberechtigt.

In diesem Zusammenhang hat sich Herr Orhan Akman an uns gewandt. Herr Akman berichtete uns unter anderem folgenden Sachverhalt. Es handelt sich hierbei nicht um eine abschließende Schilderung der Ereignisse:

Herr Orhan Akman ist gebürtiger Kurde und lebt seit 1987 in Deutschland. Seit 2002 ist er politischer Gewerkschaftssekretär bei ver.di und arbeitete fast durchgehend im Fachbereich Handel. Im Jahr 2019 wurde Herr Akman zum Bundesfachgruppenleiter Einzel- und Versandhandel benannt.

Aufgrund struktureller Probleme im Bundesfachbereich Handel und der daraus resultierenden enormen Arbeitsbelastung, habe Herr Akman zwischen Januar und Oktober 2021 mehrere Hundert Mehrarbeitsstunden angesammelt und deren Ausgleich schriftlich geltend gemacht. Er habe zuvor in drei Gesprächen (im März, Juni und September) auf die Situation aufmerksam gemacht und den Bundesvorstand vergeblich um Unterstützung und Abhilfe gebeten. Im Zusammenhang mit der Geltendmachung der Mehrarbeitsstunden habe Herr Akman mehrere Vorschläge, u.a. eine 4-Tage-Woche zum Umgang mit diesen unterbreitet, die aber  seitens ver.di sämtlich abgelehnt worden seien. Während ver.di eine 4-Tage-Woche zum Abbau der Mehrarbeitsstunden bei Herrn Akman abgelehnt habe, wurde (…) diese Möglichkeit ohne Probleme eingeräumt.

(…)

Wir als Beratungsstelle unterstützen das Anliegen von Herrn Akman. In unserem Beratungsalltag beobachten wir immer wieder, dass People of Color/Menschen mit Migrationsgeschichte in den meisten Führungsetagen stark unterrepräsentiert sind. Wir beobachten auch, dass es Ihnen oft, trotz herausragender Qualifikationen, sehr schwer gemacht wird aufzusteigen. Das ist vor dem Hintergrund, dass in Deutschland deutlich mehr als jede vierte Person einen Migrationshintergrund hat”, nicht im Vergleich bei 13,8 %. Auch der Bundesvorstand  von ver.di ist ausschließlich mit weißen Personen besetzt. Seit der ver.di-Gründung 2001 sei Herr Akman der erste Mensch mit Migrationsgeschichte, der seine Kandidatur für den Bundesvorstand erklärt hat. Romin Khan, ver.di-Referent für Migrationspolitik, schrieb in einem Artikel im Jahr 2020, dass es keine „öffentliche Diskussion über die Tatsache, dass bis heute niemand mit Einwanderungsgeschichte in den Bundesvorständen der beiden größten deutschen Einzelgewerkschaften sitzt“ gebe. Dies sei überraschend, angesichts dessen, dass gerade die Arbeitswelt die Realität einer Einwanderungsgesellschaft abbildet und sich dies auch stetig in den steigenden Mitgliederzahlen von Migrant*innen ausdrücke. Aus Perspektive einer Antidiskriminierungsberatungsstelle für Betroffene von u.a. rassistischer Diskriminierung am Arbeitsplatz, sind strukturelle Benachteiligungen für Mitarbeiter*innen mit Migrationsgeschichte bei ver.di, insbesondere in der Führungsetage nach Auswertung der vorgetragenen Informationen, nicht von der Hand zu weisen. Wir sehen hier dringenden Handlungsbedarf.

Ferner erkennen wir in Bezug auf die Behandlung von Herrn Akman Indizien für eine Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft. Wir erleben in unserem Beratungsalltag immer wieder, dass Menschen mit Migrationsgeschichte besonders harschen Sanktionierungen durch Arbeitgebende ausgesetzt sind, wenn sie sich beschweren oder auf Missstände aufmerksam machen. Das ist auch hier, unserer Einschätzung nach, geschehen. Zudem ist es überaus irritierend, dass Herr Akman unmittelbar nach der Bekanntgabe seiner Kandidatur mit arbeitsrechtlichen Maßnahmen überzogen wurde, die später von einem Gericht sowie einer Einigungsstelle für unwirksam befunden wurden (zwei Kündigungen, eine Versetzung). Das wirft vor dem Hintergrund, dass Herr Akman seit zwanzig Jahren ein geschätzter Gewerkschafter und Mitarbeiter sowie bis dahin einzigen Kandidaten mit Migrationsgeschichte für den Bundesvorstand war, viele Fragen auf. Diskriminierungen äußern sich, unserer Erfahrung nach, oft versteckt oder subtil und es sind selten eindeutige rassistische Aussagen erkennbar. Häufig drückt sich Diskriminierung dadurch aus, dass Mitarbeitende Ausgrenzungen erfahren, ihnen häufiger Partizipation verwehrt wird und sie schneller sanktioniert oder  problematisiert werden. Laut 85 Nr. 3 1 der ver.di-Satzung zählt die „Vertretung der Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Migrationshintergrund insbesondere durch Förderung und Realisierung gesellschaftlicher, betrieblicher und sozialer Integration sowie der aktiven Auseinandersetzung mit migrationsspezifischen Fragen und Problemen“ zu den Grundsätzen von ver.di. Im Zusammenhang mit Herrn Akmans Kandidatur scheint der Grundsatz nicht angewandt worden zu sein, denn Herr Akman hatte kaum Chancen seine Kandidatur weitreichend bekannt zu machen und sich als Kandidat mit seinen Visionen und Zielen vorzustellen. Nicht nachvollziehbar ist für uns zudem, warum ein Arbeitnehmer, der zwei Jahrzehnte nicht negativ aufgefallen ist, plötzlich mit Verdachtskündigungen fristlos entlassen wird. Herr Akman betonte uns gegenüber immer wieder, er habe stetig Bereitschaft gezeigt ins Gespräch zu gehen, auch mit externer Hilfe.

Die Hinzuziehung eines privaten Sicherheitsdienstes am Tag der Nominierung wirft weitere Fragen auf. Wir beobachten immer wieder, dass insbesondere als männlich und muslimisch gelesene Menschen mit Migrationsgeschichte oftmals Gewaltbereitschaft zugeschrieben wird und sie so stigmatisiert werden. Die Präsenz eines Sicherheitsdienstes bei der Bundesfachbereichskonferenz Handel, während der Herr Akman  zum ersten Mal seit langem die Gelegenheit hatte, sich als Kandidat vorzustellen, stellt ein Indiz für das Reproduzieren dieses rassistischen Stigmas dar.

Wir bewerten den uns geschilderten Sachverhalt in Bezug auf Diskriminierung von Herrn Akman in seinem Arbeitsverhältnis als äußerst bedenklich. Insbesondere liegen Indizien für eine (ungerechtfertigte) Ungleichbehandlung im Zusammenhang mit der Kandidatur vor. Unserer Einschätzung nach besteht dringender Bedarf nach Aufklärung und selbstkritischer Hinterfragung des bisherigen Vorgehens von Seiten des Bundesvorstandes. Daher sehen wir aufgrund der oben geschilderten Erfahrungen des Herrn Akman auch auf struktureller Ebene ausdrücklich Handlungsbedarf. Es geht hierbei weniger um die moralische Bewertung von „gut“ und „schlecht“. Vielmehr kann die ernsthafte Auseinandersetzung mit einer Diskriminierungsbeschwerde Teil einer Aufarbeitung von strukturellen Missständen sein und somit für alle Seiten ein konstruktiver Fortschritt. Als ADNB des TBB finden wir, dass Herr Akman diese ehrliche Auseinandersetzung nicht zuletzt aufgrund seines uneingeschränkten Engagements der letzten 20 Jahre für gewerkschaftliche Belange bei ver.di verdient.

Unabhängig von Herrn Akman und dem oben beschriebenen Sachverhalt geht es hier auch darum, wie nachhaltig und mutig ver.di in Zukunft den Umgang mit einer zunehmend diverseren Gewerkschaftsmitgliederschaft gestalten möchte. Der unermüdliche Einsatz Herrn Akmans für gleichwertige Bewerbungskonditionen für den Bundesvorstand steht daher im Sinne eines übergeordneten Ziels, eine Veränderung zum Besseren für alle bei ver.di anzustoßen. Das weitere Vorgehen von ver.di in dieser Sache ist daher nicht nur im vorliegenden Fall von höchster Relevanz.

In dem Zusammenhang möchten wir Ihnen folgende Fragen stellen:

  1. Warum gibt es keine Quote für Menschen mit Migrationsgeschichte in den ehrenamtlichen Vorständen, in den Tarifkommissionen und bei der Besetzung offener Stellen oder von Wahlämtern, obwohl deren Repräsentation in der Führungsebene nicht vorhanden ist?
  2. Welche Maßnahmen werden ergriffen, die die Repräsentation von Migrant*innen und Menschen von Migrationsgeschichte in den ehrenamtlichen Vorständen, Tarifkommissionen und bei der Besetzung offener Stellen oder von Wahlämtern fördert? Gibt es eine Evaluation zum Erfolg der Maßnahmen?
  3. Wohin können sich Arbeitnehmer*innen im Fall von Diskriminierung wenden? Gibt es eine AGG-Beschwerdestelle? Wenn ja, wie wird diese gegenüber Arbeitnehmer*innen bekannt gemacht?
  4. Wieso wurde Herr Akman trotz des Urteils über die Unwirksamkeit der Kündigungen, nicht als Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel weiterbeschäftigt?
  5. Wieso erhielt Herr Akman nicht die gleichen Chancen und Möglichkeiten wie Frau Zimmer sich als Kandidat bekannt zu machen und vorzustellen?

Wir möchten Sie bitten uns zu dieser Beschwerde bis zum 09.06.2023 eine Stellungnahme zu kommen zu lassen.