„Lieber Orhan,
(…) Letzte Abmahnung (…)
Mit kollegialen Grüßen“
Erneut erhielt ich an diesem Wochenende Post von meiner Gewerkschaft ver.di. Konkret einen Brief von der Personalabteilung, dir mir eine „Letzte Abmahnung“ zuschickte. Zusammen mit den drei Abmahnungen davor sind es nun vier in der Anzahl.
Diesmal ist der Grund mein Artikel in der Tageszeitung „junge Welt“ vom 27. April 2023 mit dem Titel „Schlecht verhandelt“ (vgl. www.orhan-akman.de/blog-post/junge-welt-schlecht-verhandelt/ ). Konkret analysiere ich in dem Artikel unter anderem die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst und bei der Deutschen Post, zeige Perspektiven auf und lade zur inhaltlichen Diskussion über die tarifpolitische Ausrichtung von ver.di ein.
Mit meinem Artikel, den ich im Übrigen in meiner Eigenschaft als ver.di-Mitglied und Kandidat für den ver.di-Bundesvorstand geschrieben habe, soll ich meine „arbeitsvertragliche Pflicht verletzt“ haben. Ferner soll ich mit diesem Artikel gegen meinen „Loyalitätspflichten“ verstoßen haben.
Diese unhaltbaren Vorwürfe weise ich in aller Deutlichkeit von mir
Meine Gewerkschaft formuliert in dem Schreiben die Erwartung an mich in meinen „öffentlichen Äußerungen auf die Außenwirkung der ver.di als Gewerkschaft (zu achten) und der Geschlossenheit von ver.di keinen Schaden (zuzufügen).“
Ich weise die Behauptung, ich würde ver.di Schaden zufügen, vehement von mir. Vielmehr frage ich mich, wo wir uns als Gewerkschaften hinbewegen, wenn eine inhaltlich-sachliche Kritik an Tarifabschlüssen unserer Gewerkschaft(en) als Schädigung der Gewerkschaften abgetan wird. Ist es nicht unsere Aufgabe als Vertreter*innen der Arbeiterklasse, politisch zu diskutieren, um die Ausrichtung zu streiten und inhaltlich zu diskutieren? Oder sollen Mitglieder der Gewerkschaften keinerlei Kritik mehr ausüben dürfen?
Auch diese Abmahnung steht im Widerspruch der Grundsätze von ver.di. In unserer Satzung wird u.a. als eines der wesentlichen Ziele der Organisation die Meinungsfreiheit hervorgehoben. Konkret heißt es in der Satzung unter „III. Grundsätze, § 5 Zweck, Aufgaben und Ziele, Punkt 3.) :
„k) Verwirklichung und Verteidigung der grundgesetzlich garantierten Kunst-, Informations-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit,“
Ferner heißt es in der ver.di-Satzung (§ 10 Allgemeine Rechte und Pflichten der Mitglieder): „1. Jedes Mitglied hat das Recht,
b) seine Meinung in allen gewerkschaftlichen Angelegenheiten frei zu äußern,“.
Diese Rechte dürften uneingeschränkt auch für mich als ver.di-Mitglied gelten, dachte ich zumindest. Die „letzte Abmahnung“ soll mich diesbezüglich wohl etwas Besseren belehren.
ver.di dürfte aber auch bekannt sein, dass meine Aussagen im besagten Artikel in der jungen Welt auch durch den Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetz gedeckt sind. Im GG heißt es dazu: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“
Unabhängig von Satzung und Grundgesetz bin ich überzeugt, dass wir gemeinsam nur in einem Diskurs über unser Handeln einen Weg finden, Durchsetzungsstärke zu entfalten und die Lohn- und Arbeitsbedingungen und damit auch die Lebensbedingungen unserer Mitglieder und aller Beschäftigten dauerhaft zu verbessern.
Ich werde mich gegen diese Abmahnung sowie gegen die anderen ungerechtfertigten Schritte des Bundesvorstandes sowohl politisch als auch rechtlich zur Wehr setzen. Ich ziehe nicht zurück und kandidiere weiterhin für den Bundesvorstand.
Zur Erinnerung und Einordnung
Seit Dezember 2021 versucht der ver.di-Bundesvorstand, den inhaltlich-politischen Konflikt um die Ausrichtung unserer Gewerkschaft sowie mögliche Wege aus der Krise von ver.di mit formalen und arbeitsrechtlichen Mitteln zu führen bzw. zu umgehen. Seitdem wurde
- ich im Jahr 2022 zweimal schriftlich ungerechtfertigt ermahnt, u.a. wegen Autoritätsmißachtung
- ich im Jahr 2022 zweifach gekündigt, davon eine sogenannte „Verdachtskündigung“. Eine dritte Kündigung musste ver.di aufgrund von Formfehlern bereits zurückziehen
- ich von meiner Funktion als Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel abgesetzt, ohne dass der Bundesfachgruppenvorstand daran beteiligt wurde
- meine Tarifvollmachten ohne Angabe von Gründen und ohne die Beteiligung der jeweiligen Bundestarifkommissionen widerrufen
- ich mehr als ein Jahr aus meiner Gewerkschaft ausgegrenzt und durfte nicht arbeiten
- mir vorgeschrieben, keinen Kontakt zu den ehrenamtlichen Gremien wie Bundestarifkommissionen, aber auch zu den Medien zu haben
- jegliche Gesprächsangebote von mir abgelehnt, den politischen Konflikt im Dialog und in Gesprächen zu lösen zu versuchen
- mehrfach gerügt, weil ich mich nicht als „Kandidat für ver.di-Bundesvorstand“ bezeichnen dürfe
- mir fünf Monate lang kein Cent Gehalt von ver.di überwiesen
- in ein anderes Ressort versetzt, und zwar gegen den Beschluss des Betriebsrates und gegen meinen Willen
- seit Ende April 2023 von der Arbeit freigestellt, nachdem die Einigungsstelle die fehlende Zustimmung des Betriebsrates nicht ersetzt hat und damit die Versetzung für unwirksam erklärt hat
- vierfach abgemahnt
All das, was noch so über mich in die Welt gesetzt wurde und wird, lasse ich hier mal weg.
Gegen diese Schikane vom ver.di-Bundesvorstand habe ich mich rechtlich, vor allem aber mit der Solidarität hunderter Kolleginnen und Kollegen gewehrt. Das Berliner Arbeitsgericht hat am 13. Dezember 2022 im Kammertermin entschieden, dass die Kündigungen nicht rechtmäßig und damit unwirksam sind. ver.di ist dagegen in Berufung gegangen. Auch gegen die unrechtmäßige Versetzung habe ich mich gewehrt und vor der Einigungsstelle recht bekommen.