Gewerkschaften sind geboren aus der Idee der Solidarität. Als vor über 150 Jahren in Deutschland die ersten Fabriken aufkamen und die Industrialisierung begann, gab es noch keine Krankenversicherung. Auch die heutige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war in weiter Ferne. Wer krank wurde und nicht arbeiten konnte, bekam keinen Lohn. Also beschlossen die ersten Beschäftigten damals, niemanden zurückzulassen weil er oder sie krank wurde. Unter den Lohnabhängigen bildeten sich die Solidarkassen. Damit war der Grundstein für die Gewerkschaften gelegt.
Aus dieser Idee der Solidarität entwickelte sich ein stärkerer Zusammenhalt. Arbeiterinnen und Arbeiter merkten, dass zentrale Forderungen – mehr Lohn, kürzere Arbeitszeiten, Pausen, das Verbot von Kinderarbeit, Meinungs- und Organisationsfreit am Arbeitsplatz sowie Schutz vor Unternehmerwillkür u.v.m. – für sich als einzelne Person nicht durchsetzbar waren. Also schlossen sie sich in einer Gewerkschaft zusammen.
In der Gewerkschaft gaben sich organisierte Beschäftigte das Versprechen, ihre Arbeitskraft nicht unterhalb gewisser Bedingungen an die Fabrikeigentümer zu verkaufen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit war das Ziel. Zunächst für einen Betrieb, später für eine ganze Branche. Das war der Vorbote des Tarifvertrages.
Um einen Tarifvertrag durchsetzen zu können und als Organisation gegenüber den Kapitalisten wirksam zu werden, schufen die Beschäftigten professionell arbeitende Organisationen mit eigenen Hauptamtlichen. Sprich, die Lohnabhängigen zahlten einen kleinen Teil ihres Verdienstes in eine Solidarkasse, um sich hauptamtlich tätige Gewerkschaftsaktive und eine Organisation samt Gebäude, Räumen, Infrastruktur etc. leisten zu können. Damit waren die Gewerkschaften geboren.
Diese Gründungsidee ist und bleibt von zentraler Bedeutung: Lohnabhängig Beschäftigte tun sich solidarisch in der Gewerkschaft zusammen, um gemeinsam auch gegen die Lohnkonkurrenz anzugehen und sie abzuschaffen. Sie versprechen sich gegenseitig, nicht zu Konditionen zu arbeiten, die schlechter sind als per Tarifvertrag vereinbart wurde. Auf diese Weise begründen und rechtfertigen sie die gewerkschaftliche Organisierung.
Jede Gewerkschaft, jede Gewerkschafterin und jeder Gewerkschafter steht in der Pflicht, sich diese Legitimation immer wieder in Erinnerung rufen. Daher muss die ganze Kraft der Gewerkschaft – inklusive aller hauptamtlichen und finanziellen Ressourcen – immer auch der gewerkschaftlichen Basis dienen. Damit wir stärker werden, müssen wir nah am Betrieb und nah am Mitglied sein, um die Idee der Solidarität weiterzuentwickeln und auch unorganisierte Beschäftigte für unsere Gewerkschaft zu gewinnen. Das ist zugleich der Garant, dass wir uns nicht von unseren Mitgliedern entfremden.
Mitglieder sind völlig zu recht auch kritisch im Verhältnis zu den Hauptamtlichen und zu ihrer Organisation. Und das ist gut so. Dieses Recht besteht aber auch für Hauptamtliche der Gewerkschaften. Sie sind ebenfalls Gewerkschaftsmitglied und dürfen sich im hauptamtlichen Apparat nicht wegducken, wenn es Anlass zur Kritik gibt. Wir können uns nach vorne entwickeln, in dem wir konstruktive Kritik und Selbstkritik üben und hierfür ausreichend Raum lassen. Schließlich gilt: „Wer die Rose liebt, muss ihren Dorn ertragen.“
Orhan Akman